Überalterte Bevölkerung, schlechte Infrastruktur, keine Apotheke: Die brandenburgische Gemeinde Niemegk kämpft um ihre Versorgung. Und das wörtlich: Die Einwohner demonstrieren, organisieren sich und versuchen eine Apotheke in den Ort zu holen. Da der freie Markt nicht weiterhilft, fahren sie nun andere Geschütze auf. Das Amt Niemegk will offiziell den Notstand in der Arzneimittelversorgung feststellen lassen, um selbst einen Apotheker anstellen zu können. Das wäre aktuell ein einmaliger Vorgang in ganz Deutschland. Den Segen der Apothekerkammer gibt es dafür schon. Kammerpräsident Jens Dobbert und Geschäftsführerin Kathrin Fuchs sind am Mittwoch eigens nach Niemegk gereist.
„Wir sind unserer Zeit voraus“, sagt Gabriele Eissenberger. „Wir haben hier schon die Probleme, die andere erst in ein paar Jahren kriegen: Abwanderung, Überalterung, Fachkräftemangel, Versorgungsprobleme.“ Eissenberger ist ein Tausendsassa in der Gegend, die studierte Soziologin betreibt eine Pension in Garrey, ist als Ortsbeirätin und Gemeinderätin in der Kommunalpolitik aktiv – und ist nun auf der Mission, Niemegks Arzneimittelversorgung zu retten. Gemeinsam mit Amtsdirektor Thomas Hemmerling, Niemegks Bürgermeister Hans-Joachim Linthe und Ralf Raffelt, Bürgermeister der Gemeinde Rabenstein/ Fläming, sucht sie nach Wegen, einen Apotheker nach Niemegk zu locken.
Denn Ende April hatte mit der Robert-Koch-Apotheke die letzte Offizin in der Kleinstadt geschlossen und die ansässige Bevölkerung vor Probleme gestellt. Schon der Begriff Kleinstadt führt in die Irre: Formell ist Niemegk zwar eine Stadt, de facto handelt es sich aber um mehrere Dörfer, die administrativ zusammengefasst wurden. Und das sollte sich noch als Problem herausstellen: Denn als die Apotheke schloss, hatte die Apothekerkammer zuerst die Einrichtung eines Rezeptkastens verweigert, weil mehrmals täglich ein Bus in die 12 und 18 Kilometer entfernten Nachbarorte Treuenbrietzen und Bad Belzig fährt. Da sich die Dörfer aber über eine Fläche verteilen, die größer als Potsdam ist, sahen das weder Amt noch Anwohner als zumutbar.
Apothekerin Anja Aepler aus dem benachbarten Straach konnte die Kammer letztlich überzeugen. Seit Mitte Juli hängt am Niemegker Rathaus ein Rezeptsammelkasten. Doch kaum war der angebracht, verschwand im September einer der beiden Ärzte im Ort buchstäblich über Nacht. Da reichte es Eissenberger. Sie organsierte eine Demo, baute öffentlichen Druck auf und vor allem: Sie arbeitete sich selbst in das Thema ein und entwickelte zusammen mit Hemmerling, Linthe und Raffelt Lösungsvorschläge.
Der öffentliche Druck zeigte Wirkung. Nachdem die Apothekerkammer schon im Streit um die Rezeptsammelstelle die Fähigkeit zeigte, Fehler einzugestehen und Kompromisse zu finden, demonstriert sie nun, dass sie Teil der Lösung ist, nicht des Problems. Sie hat die Situation zur Chefsache erklärt: Am Mittwoch kamen Dobbert und Fuchs nach Niemegk, um sich mit Hemmerling, Linthe, Raffelt und Eissenberger zu treffen. „Das fand ich schon mal nicht schlecht, dass die beiden extra zu uns in die Pampa gekommen sind“, sagt Eissenberger selbstironisch. Und sie kamen nicht umsonst, denn das Vierergespann hatte sich gut auf das Treffen vorbereitet: Gleich mehrere Vorschläge haben sie gemacht, wie die Arzneimittelversorgung in Niemegk wiederhergestellt werden könnte.
Der Plan der Niemegker: § 16 Apothekengesetz (ApoG). „Tritt infolge Fehlens einer Apotheke ein Notstand in der Arzneimittelversorgung ein, so kann die zuständige Behörde dem Inhaber einer nahen gelegenen Apotheke auf Antrag die Erlaubnis zum Betrieb einer Zweigapotheke erteilen, wenn dieser die dafür vorgeschriebenen Räume nachweist“, steht dort. Dazu muss das Amt Niemegk beim Landesamt für Arbeitsschutz, Verbraucherschutz und Gesundheit (LAVG) die Ausrufung des Notstands in der Arzneimittelversorgung beantragen. Es hat bereits angekündigt, das zu tun. Das LAVG wiederum prüft dann, ob die Voraussetzungen für den Notstand gegeben sind. „Diese Prüfung brauchen wir leider nicht zu fürchten“, sagt Eissenberger. „Danach könnten wir dann alle Apotheken in der Region abklappern und schauen, ob eine bereit wäre, hier eine Zweigapotheke zu eröffnen.“
Allerdings habe sich Dobbert wenig überzeugt von der Idee gezeigt. „Er sah das weniger optimistisch als wir“, so die 70-Jährige. Mehr konnte er demnach mit Plan B anfangen: § 17 Apothekengesetz. „Ergibt sich sechs Monate nach öffentlicher Bekanntmachung eines Notstandes in der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung, dass weder ein Antrag auf Betrieb einer Apotheke noch einer Zweigapotheke gestellt worden ist, so kann die zuständige Behörde einer Gemeinde oder einem Gemeindeverband die Erlaubnis zum Betrieb einer Apotheke unter Leitung eines von ihr anzustellenden Apothekers erteilen, wenn diese die nach diesem Gesetz vorgeschriebenen Räume und Einrichtungen nachweisen“, heißt es dort.
Und das will das Amt Niemegk machen, sobald die Sechsmonatsfrist abgelaufen ist. Das wäre bundesweit einzigartig, denn nach Angaben der ABDA gibt es derzeit keine einzige Notapotheke – und auch nur elf Zweigapotheken. Die Frage nach den Räumlichkeiten sei bereits geklärt, beteuert Eissenberger. Das Amt Niemegk werde in direkter Nähe zum Rathaus ausreichende Flächen zur Verfügung stellen, sei bereit, eigens eine GmbH zu gründen und einem Apotheker die bestmöglichen Voraussetzungen zu bieten. Eissenberger hat vor allem Hoffnung, einen jungen Pharmazeuten anzulocken. „Jemand, der gerade seinen Abschluss gemacht hat und sich noch scheut, die Selbstständigkeit anzutreten, können wir mit dem Amt als Arbeitgeber bestimmt überzeugen“, sagt sie. „Nötig wäre es auf jeden Fall und es macht hier weitaus mehr Sinn als in der Großstadt.“ Auch die Verdienstchancen seien entgegen der landläufigen Vorstellungen gut. „Die bisherige Apothekerin hat sich nie beschwert.“
Für den Fall, dass auch das nicht klappt, hat sich Eissenberger noch einen weiteren Trick ausgedacht, wie sie erklärt: Man könne doch versuchen, von den vorgeschriebenen Öffnungszeiten abzuweichen und einen Deal mit einer Apotheke in der Region machen. Die könne dann an zwei Standorten jeweils halbtags arbeiten – das würde ausreichen, die Versorgung sicherzustellen und würde für die Apotheke keine großen Einbußen bedeuten, ist Eissenberger überzeugt – Dobbert und Fuchs aber nicht. „Ich habe das extra Modellprojekt genannt, aber die beiden sind nicht darauf angesprungen.“
Sie habe ja Verständnis dafür, das die beiden der Idee reserviert gegenüberstehen. Doch in Anbetracht der vorhersehbaren demographischen Entwicklung in Niemegk – und im ganzen Land – müsse man jetzt schon beginnen, auch Lösungen jenseits etablierter Vorschriften zu erwägen. Sie habe noch Hoffnung, dass Dobbert seinen Standpunkt dahingehend ändern könnte. „Ich habe ihm auf den Weg mitgegeben, dass er darüber doch mal in Ruhe nachdenken kann.“ Dobbert habe jedenfalls beteuert, dass er den Kontakt nach Niemegk halten und weiter bei der Lösungssuche mitwirken will.
Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Deshalb hält Eissenberger ihr Engagement aufrecht. Nächster Schritt soll eine Petition sein. Über 1000 Unterschriften haben sie und ihre Mitstreiter bereits gesammelt, bis Januar sollen es nochmal bedeutend mehr werden. Dann wollen Eissenberger und ihre Verbündeten nach Potsdam und die Unterschriftenliste dort dem Gesundheitsministerium vorlegen.
Unterdessen versucht das Versorgungsretterbündnis den öffentlichen Druck aufrecht zu erhalten. Auf dem Niemegker Weihnachtsmarkt haben sie ihrem Anliegen eigens einen Stand gewidmet: „Dort haben wir in schweißtreibender Arbeit aus Honigkuchen selbst Apotheker gebacken.“ Dazu verteilten sie selbstgemachte Bastelbögen, Motto: „Ich bastel‘ mir meine Apotheke selbst.“ Die Resonanz sei sehr gut gewesen – und habe gleich ein paar Unterschriften eingebracht.
Bei allen Sorgen um den Ort, zeige ihr das, dass es die Mühen wert ist. „Ich muss für die Niemegker wirklich eine Lanze brechen. Die Leute hier sind so motiviert, stellen so viel auf die Beine und befeuern sich gegenseitig“, sagt Eissenberger. „Der Apotheker, der hierherkommt, wird viel Spaß haben.“
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