Esslingen

Nach Apothekenschließungen: Notdienst vor Gericht Patrick Hollstein, 20.10.2020 09:40 Uhr

Weniger Apotheken, mehr Notdienste: In Esslingen gibt es Streit um den neuen Turnus. Foto: APOTHEKE ADHOC
Berlin - 

Apothekenschließungen bringen den verbleibenden Standorten mehr Kunden und Umsatz, aber auch mehr Arbeit. So muss der Notdienst regelmäßig neu verteilt werden. In Esslingen endete jetzt ein Streit darüber vor Gericht.

Im Notdienstkreis Esslingen wurden 2018 vier Apotheken aufgegeben, daher sah sich die Kammer veranlasst, für 2019 eine neue Notdienstregelung zu beschließen. Um den Patienten längere Anfahrten zu ersparen, wurde entschieden, dass stets eine der 25 Apotheken im Stadtgebiet Notdienst leisten müsse. Die übrigen zehn Apotheken in den umliegenden Gemeinden sollten lediglich ergänzend einbezogen werden. Eine Ausnahme sollten lediglich Aichwald und Ostfildern bleiben.

Für jede Apotheken in Esslingen ergebe sich daraus eine durchschnittliche Mehrbelastung von 1,1 Notdiensten pro Jahr; dies sei nicht unzumutbar, argumentierte die Kammer. Ohnehin liege der 25-er-Turnus in der landesweiten Betrachtung im oberen, günstigeren Bereich.

Dennoch legte eine Apothekerin Widerspruch ein. Die bisherige Regelung habe nicht nur bei Kollegen uneingeschränkte Zustimmung gefunden; auch Beschwerden der Bevölkerung habe es nicht gegeben. Die durchschnittliche Anfahrtszeit von 15 bis 20 Minuten sei auch von der Kammer in der Vergangenheit nicht beanstandet worden; durch die Sonderregelung für Aichwald und Ostfildern würden auch in Zukunft Fahrtstrecken für die Bevölkerung von mehr als zehn Kilometern akzeptiert. Ohnehin müssten Verbraucher schon seit der Ansiedlung von Notfallpraxen im Kreiskrankenhaus mit längeren Anfahrten rechnen. Die Umstellung vom 27er- auf einen 24er-Zyklus greife in unzulässiger Weise in ihre Berufsausübungsfreiheit ein, die Abberufung des Notdienstkoordinators sei ein Eingriff in die Selbstverwaltung.

Die Kammer verteidigte ihre Entscheidung: In städtischen Gebieten werde eine Entfernung von 6 bis 7 Kilometer zur nächsten dienstbereiten Apotheke noch akzeptiert. Um etwa in den Ortsteil Ruit zu kommen, müsse ein Bewohner aus dem Osten Esslingens aber den gesamten Notdienstkreis durchqueren und etwa aus Aichwald rund 17 Kilometer zurücklegen. Dies sei für die Bevölkerung nicht zumutbar, wenn im gesamten Notdienstkreis 35 Apotheken existierten. Da der Notdienstkreis größtenteils nicht durch ländliche Strukturen geprägt sei, müsse das Interesse des Arbeitsschutzes hinter die Bedürfnisse der Bevölkerung zurückgestellt werden.

Das Verwaltungsgericht Stuttgart (VG) sah die Sache genauso. Bei Wegfall oder Neuansiedlung von Apotheken sei die Kammer schon von Amts wegen verpflichtet, den Notdienst neu zu ordnen. Dabei müsse die zuständige Behörde „in Ausübung ihres Ermessens unter Wahrung der Wettbewerbsgleichheit zwischen den Apotheken die Arbeitsschutzinteressen des Apothekenpersonals und das Interesse der Bevölkerung an der Arzneimittelversorgung gegeneinander abwägen“.

Weder könne die Bevölkerung eine in jeder Hinsicht bequeme Arzneimittelversorgung verlangen noch das Apothekenpersonal einen uneingeschränkten Arbeitsschutz. „Da die widerstreitenden Interessen zu einem gerechten Ausgleich zu bringen sind, kann das Interesse der Bevölkerung an kurzen Wegen zur dienstbereiten Apotheke umso eher berücksichtigt werden, je mehr Apotheken von der Regelung erfasst werden und je geringer damit die Belastung des Apothekenpersonals der einzelnen Apotheke ist. Die Bevölkerung muss umgekehrt umso mehr Abstriche an einer bequemen Arzneimittelversorgung hinnehmen, je weniger Apotheken nach den örtlichen Verhältnissen zu einer einheitlichen Notdienstregelung herangezogen werden können. In keinem Fall aber darf die Notdienstregelung dazu führen, dass sich im Hinblick auf die tatsächlichen Verhältnisse die Bevölkerung außerhalb der allgemeinen Öffnungszeiten nicht mehr in zumutbarer Weise mit Arzneimitteln versorgen kann.“

So sei die Auffassung der Kammer nicht zu beanstanden, dass die Apotheken im Ortsteil Ruit für die Versorgung der Bevölkerung des gesamten Notdienstkreises nicht geeignet seien.Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) habe in einer Entscheidung aus dem Jahr 1989 eine Entfernung von 14 Kilometern als unzumutbare Einschränkung der Arzneimittelversorgung im Notdienstbereich gesehen, sofern ein öffentliches Verkehrsmittel nicht zur Verfügung steht. „Da in der Innenstadt von Esslingen eine relativ große Anzahl von Apotheken vorhanden ist, gewinnt das Interesse der Bevölkerung an kurzen Wegen an Gewicht.“

Das Argument der Apothekerin, dass Patienten auf den benachbarten Notdienstkreis ausweichen könnten, ließen die Richter nicht gelten: „Maßgebend ist allein, ob im jeweiligen Notdienstbezirk eine unzumutbare Einschränkung der Arzneimittelversorgung besteht.“

Zu Recht habe die Kammer auch angenommen, dass es beim Apothekennotdienst nicht nur darum geht, Verschreibungen einzulösen, sondern die generelle Aufrechterhaltung der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung maßgebend sei. „Der Apotheker übt auch eine beratende Funktion aus und steht als Ansprechpartner für Patienten zur Verfügung, die ein nicht verschreibungspflichtiges Medikament zur Selbstmedikation erwerben wollen. Im Hinblick auf den Aspekt der ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln und den Belangen der weitgehend gleichmäßigen Belastung der Apothekenbetriebe erscheint die von der Beklagten gewählte Dienstbereitschaftsregelung als sachgerecht.“

Zwar beeinträchtige die Änderung der Notdienstregelung die freie Berufsausübung, weil für die Apotheken die Anzahl der Notdienste geringfügig ansteige. Diese Beeinträchtigung sei aber durch sachliche Gründe gerechtfertigt. „Die streitgegenständliche Notdienstregelung dient dem Gebot der Gleichbehandlung durch eine gerechte Verteilung der Belastungen des Notdienstes auf die Apotheken und ihr Personal, der gleichmäßigen Verteilung der Notdienstapotheken auf den Notdienstbezirk und damit der gleichmäßigen Begünstigung der Einwohner dieses Bezirks, sowie dem Leitbild der Apothekenbetriebsordnung, die jede Apotheke verpflichtet, die notwendigen Arzneimittel und Einrichtungen bereitzuhalten, um die Verpflichtung zur Gewährleistung einer Arzneimittelabgabe außerhalb der üblichen Öffnungszeiten sicherzustellen.“

Möglicherweise sei eine Notdienstregelung denkbar, die für die Apothekerin eine größere Entlastung bringe. „Aber die streitgegenständliche Anordnung, für die sich die Beklagte entschieden hat, unterliegt als Ermessensentscheidung keinen rechtlichen Bedenken.“