„Für die Akutversorgung ist das der Tod“ Patrick Hollstein, 13.10.2016 10:30 Uhr
Apotheker Holger Staffeldt ist genervt. Der Inhaber der Falken-Apotheke in Hannover hat 200 Packungen Novaminsulfon Lichtenstein erhalten – innerhalb von kürzester Zeit war der Vorrat schon wieder aufgebraucht. Das Schmerzmittel ist kein Einzelfall: Wenn sich nicht bald etwas ändert, steht die Akutversorgung seiner Meinung nach vor dem Kollaps.
Zentiva ist laut Staffeldt nicht der einzige Hersteller, mit dem der Apotheker derzeit seine Probleme hat. Unlängst habe er Besuch von einem Astellas-Mitarbeiter erhalten, der ihn über die Schwierigkeiten des Großhandels, die Apotheken mit Vesikur zu beliefern, in Kenntnis setzte und stattdessen anbot, die Ware über den „firmeneigenen Großhandel“ zu bestellen, „da dieser immer und jederzeit mit ausreichend Ware bestückt sei“.
Staffeldt erklärte, dass er seine Ware wegen des schnelleren Handlings und der Konditionen lieber über den vollsortierten Großhandel beziehe und er sich deshalb vom Hersteller wünsche, dass dieser den Großhandel mit ausreichend Ware versorge, statt einen aufwendigen Direktvertrieb anzubieten.
Kurz darauf erhielt der Apotheker einen Anruf vom Urologen: Warum er sich weigere, Vesikur zu bestellen, wollte der Mediziner wissen. Staffeldt war perplex. Offenbar hatte ihn der Außendienstler in der Praxis angeschwärzt.
Laut Staffeldt hat die Industrie die Großhandelsmarge als zusätzliche Einnahmequelle entdeckt und drängt die Apotheker zunehmend ins Direktgeschäft. 75 bis 100 Medikamente seien derzeit gar nicht oder nur in geringer Stückzahl über den Großhandel zu beziehen, schätzt er und nennt Forxiga, Viani und Pulmicort als weitere Beispiele.
„Neulich wollte ich Jardiance bei Boehringer bestellen, die Bandansage bei der Bestellannahme forderte mich auf, ausschließlich online über Pharma Mall zu bestellen. Das kostet Zeit und Geld“, sagt er und verweist auf den Aufwand bei Bestellung und Wareneingang bei gleichzeitig wegfallenden Einkaufsrabatten. Pharma-Mall sei eine „Katastrophe“, sagt er.
Seiner Meinung nach sichert die Industrie ihre Margen auf Kosten der Apotheker und des alteingesessenen Großhandels. „Ich werde um 3,05 Prozent meiner Spanne gebracht“, rechnet er vor. „Dieser Betrag macht aber für viele Apotheken den Unterschied, ob sie Geld verdienen oder schließen müssen.“ Breche beim Großhandel auf Dauer die Packungszahl weg, so reiche die gesetzlich zugestandene Marge auch hier nicht mehr aus, um die Handlingskosten zu decken. „Auch der Großhandel muss Geld verdienen. Es sind altbewährte und gut funktionierende Versorgungsstrukturen in Gefahr.“
Die Kontingentierung durch die Industrie wird laut Staffeldt aber auch zu einem Risiko für die Versorgung: Sechs Packungen, die ihm bei einigen Antidiabetika zugestanden würden, seien nicht einmal der Monatsbedarf eines einzigen Diabetologen. „Ich habe im letzten Jahr 86 Packungen eines kontingentierten Medikaments abgegeben. Für dieses Jahr sind es 26 Packungen und wir haben Oktober“, resümiert er.
Der Apotheker kann die Industrie verstehen, die ihre Produkte lieber im Ausland verkaufe, wo sie bessere Preise erziele. Die einstige „Apotheke der Welt“ werde nur noch mit soviel Ware beliefert, um den Schein zu wahren. „Ich habe vollstes Verständnis für die Hersteller, die keine Lust mehr auf Preismoratorium und Erstattungsbeträge haben. Das eigentlich Problem ist, dass die Politik behauptet, alles sei gut!“
Auch vor den Lieferausfällen der Hersteller verschlössen Gröhe & Co. die Augen: „Wenn ein AOK-Partner in die Knie geht, gibt es ganz schnell keine Ware mehr“, sagt Staffeldt. Früher oder später drohe eine echte Versorgungskrise. Da überwiegend im Ausland produziert werden, könnten auch Ereignisse wie zum Beispiel die Pleite einer großen Reederei den deutschen Markt trocken legen.
Als ein anderes Beispiel nennt Staffeldt die Impfstoffe: Bis zu 50 Prozent der Vakzine seien nicht lieferbar. Dass man diese mitunter aus dem Ausland importieren könne, bestätige die Vermutung, dass die Hersteller lieber dort verkaufen, wo sie auch Geld damit verdienen können. Vor kurzem habe er ein Ehepaar gehabt, dass sich mit Boostrix impfen lassen wollte. Eine Packung habe er vorrätig gehabt, die zweite sei innerhalb von drei Wochen nicht zu beschaffen gewesen.
„Es frustriert mich zutiefst, wenn ich darüber nachdenke, wie wir beim Patienten ankommen“, sagt Staffeldt. Er überlegt bereits, ob auch er Bundestagsabgeordnete zu sich in die Apotheke einladen sollte, um ihnen die Zustände vor Augen zu führen.
Das Problem ist aus seiner Sicht, dass die zeitnahe Versorgung im Gesundheitswesen keine echte Lobby hat: „Wenn der Urologe nach einer ambulanten Operation ein Inkontinenzprodukt aufschreibt, das Paket vom Exklusivpartner der Kasse aber erst nach drei Wochen eintrifft und der Patient sich den Bedarf zwischenzeitlich selbst kauft, dann hat die Kasse Geld gespart. Für die Akutversorgung ist das der Tod.“