Patientin muss sich Dosierung selbst basteln

Lieferengpässe: „Die haben das doch studiert, nicht ich!“

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Berlin -

Millionen Menschen sind derzeit von Arzneimittelengpässen betroffen. Was dies für individuelle Schicksale nach sich ziehen, bleibt der Öffentlichkeit jedoch meist verborgen. Zu sensibel ist das Thema Gesundheit für viele Menschen – erst recht, wenn es um psychische Erkrankungen geht. Aber gerade für Menschen, die beispielsweise an Depressionen leiden, kann ein Defekt besonders viel Leid verursachen. Madeleine Elze erging es so: Die 31-jährige Verkäuferin musste lernen, sich selbst zu helfen – denn in der Apotheke konnte man das offenbar nicht.

Eigentlich spielte die Krankheit kaum noch eine Rolle in ihrem Leben: Seit sieben Jahren nimmt die Verkäuferin aus Lüneburg den selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Venlafaxin, je nach Rabattvertrag ihrer Krankenkasse von unterschiedlichen Herstellern. Mit der Zeit konnte ihre Medikation immer weiter herunterdosieren, ihr Ziel war die komplette Absetzung. „Zuletzt habe ich noch 37,5 mg am Tag genommen, obwohl mein Arzt meinte, das sei fast schon eine homöopathische Dosis – da würde sich meine Leber doch kaputtlachen“, erzählt sie.

Da hatte Elze schon einen langen Leidensweg hinter sich. Kurz nach Abschluss ihres Germanistik-Studiums erkrankte sie Ende 2011 an einer Depression und einer Panikstörung. Wie bei den meisten Betroffenen dauerte es aber noch, bis sie sich in Behandlung begab. „Ich habe mich zu Beginn dagegen gewehrt, erst nach einem Totalzusammenbruch ging ich jeweils zehn Wochen in stationäre und dann teilstationäre Behandlung.“ Von da an kämpfte sie sich ins Leben zurück, reduzierte die Dosis Schritt für Schritt und wagte den ersten Versuch, das Venlafaxin abzusetzen. Doch die physischen Absetzerscheinungen waren zu stark. Also stieg sie wieder bei der vertrauten Dosis ein – behielt ihr Ziel aber vor Augen. „Ich habe mir immer gesagt: ‚Irgendwann, eines Tages, schaffst du es.‘“ Dass ihr diese Entscheidung eines Tages abgenommen würde, vermutete sie da jedoch nicht.

Als sie Mitte September ihre Medikation in einer Lüneburger Apotheke abholen will, hört sie das erste Mal von Lieferengpässen: Es sei nur noch die 20er-Packung Venlafaxin verfügbar, mehr könne sie nicht erhalten. „Dabei habe ich mir erstmal nicht viel gedacht“, erinnert sie sich. Beim nächsten Mal würden sie es bestimmt wieder haben, so ihre Vermutung. „Doch als ich das nächste Mal in die Apotheke ging, war Ende Gelände.“ Was sie stattdessen machen könne? Über Alternativen habe man sie in der Apotheke nicht informiert. Auch zwei weitere Apotheken hätten ihr nicht helfen können, sagt sie.

Also hielt Elze Rücksprache mit ihrem Arzt und wollte aus der Not eine Tugend machen. Sie spielte ohnehin mit dem Gedanken, das Medikament abzusetzen und so packte sie die Gelegenheit beim Schopfe. „Ich dachte mir, ich kriege das schon hin. Zur Not bin ich eben zwei Wochen arbeitsunfähig.“ Und so war sie auch auf die körperlichen Absetzerscheinungen vorbereitet, beispielsweise die dauerhafte Übelkeit, das Schwindelgefühl oder die Sehstörungen. „Die kann man bei mir sogar sehen, ich habe dann Pupillen wie Untertassen.“ Hinzu kamen Muskelzuckungen: „Ich habe teilweise auf dem Bett gesessen und regelrecht um mich geschlagen.“

Mit der Situation konnte sie noch umgehen, nicht mehr aber mit dem, was danach kam. „Die körperlichen Symptome kannte ich ja schon, aber nach einigen Tagen setzten die psychischen ein.“ Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit und Angst vor der Dunkelheit traten plötzlich auf, vor allem letzteres war ihr völlig neu: „Das hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie. Ich musste plötzlich das Licht anlassen, wenn ich einschlafen wollte. Ich habe mir gesagt: ‚Du bist 31 Jahre alt, du musst doch keine Angst vor Monstern haben!‘“ In einem Selbsthilfeforum, das sich speziell an Menschen richtet, die Psychopharmaka ausschleichen wollen, informiert sie sich über ihre Situation – und kommt zu dem Schluss, dass es womöglich doch keine gute Idee war, das Venlafaxin abzusetzen.

Sie tauscht sich dort mit Menschen aus, die diese Symptome nach dem Absetzen teilweise jahrelang gehabt haben – und das trotz ebenso geringer Dosis. „Nach einigem Lesen und Austausch mit anderen befürchtete ich dann, dass ich vielleicht zu dieser Gruppe gehöre, und wollte lieber wieder mit der Einnahme beginnen.“ Also geht sie zu ihrem Arzt, der ihr ein neues Rezept über die alte Wirkstärke ausstellt. „Doch in der Apotheke hieß es dann, es gebe jetzt gar nichts mehr.“

In ihr Verzweiflung wendet sie sich wieder an das Forum – und erhält dort den entscheidenden Tipp: 150 mg Retardkapseln. Denn die sind mit drei Pellets zu je 50 mg Wirkstoff gefüllt. Wenn sie die Kapseln zuhause öffnet und je ein Pellet in eine neue Gelatinekapsel steckt, kann sie eine Dosierung einnehmen, die ihrer bisherigen zumindest nahekommt.

Mit einem neuen Rezept ihres Arztes über 150 mg geht sie also in die Apotheke – und wird wieder enttäuscht. Sie könne ihr das Medikament nicht abgeben, so die Apothekerin – wegen des Aut-idem-Kreuzes. „Da konnte ich nicht mehr und habe angefangen, mitten in der Apotheke zu heulen.“ Und die Apothekerin? „Die stand einfach vor mir und hat mit den Schultern gezuckt!“ Erst eine andere Apothekerin sei dann gekommen, habe ihre Kollegin zur Seite geschoben und sich um sie gekümmert. Mit etwas Einsatz konnte sie das Problem lösen und sogar noch weiter behilflich sein: „Sie war sogar so freundlich, herumzutelefonieren, um herauszufinden, ob die Retardformulierung bei den 150er-Kapseln nur für die Kapseln selbst oder auch für jedes einzelne Pellet wirkt. Bei ihr habe ich mich gut aufgehoben und getröstet gefühlt.“

Dennoch frage sie sich, wieso sie sich als Laiin im Alleingang eine Lösung für ihr Problem finden musste – noch dazu in einem Internetforum. „Ich habe dort Informationen bekommen, die mir weder mein Arzt, noch die Apotheken gegeben haben.“ Sie hätte sich gewünscht, dass ihr dort auch andere Lösungen aufgezeigt worden wären – wie die, die sie letztlich selbst gefunden hat. „Ich konnte es gar nicht glauben, dass ich mir das im Internet selbst zusammenschustern musste. Das kommt mir absurd vor. Die haben das doch studiert, nicht ich!“ Vor sich selbst habe sie die Situation, ihre Medikation allein zu organisieren, als demütigend empfunden. „Ich habe mich gefühlt wie ein Junkie, der seinen Stoff braucht“, sagt sie. Hinzu kämen die Ursachen und Zusammenhänge, die zu den Lieferengpässen führen: Nichts sei ihr dazu erklärt worden, warum sie ihre Medikamente nicht erhält. „Stattdessen haben sie einfach in den Computer geschaut und mir gesagt, ich soll nochmal meinen Arzt fragen.“

Die Gelatinekapseln hat sie letztendlich auch selbst organisiert, erst versehentlich zu große, auf denen sie nun sitzen bleibt, dann passende – über Amazon. Doch die Unsicherheit bleibt, auch wenn Elze nun zumindest auf absehbare Zeit versorgt zu sein scheint: „Die haben von den 150ern tatsächlich eine 100er-Packung ranbekommen. Ich habe jetzt quasi einen Jahresvorrat“, sagt sie. Doch auch das kann keine Dauerlösung sein, da es ihrem eigentlichen Therapieziel zuwiderläuft. „Ich merke schon, dass das eine Aufdosierung ist.“ So schlafe sie seitdem schlecht, habe „wilde Träume“ und wache beinahe jede Nacht mehrfach auf. „Daran habe ich mich aber schon gewöhnt. Das sind Nebenwirkungen, die ich schon kannte.“

Dauerhaft mit ihnen leben wollen sie trotzdem nicht – also macht sie weiter, informiert sich über Lieferengpässe und hofft, dass sich die Situation auf absehbare Zeit beruhigt. Auch über die Hintergründe – von Rabattverträgen bis zur Produktionsverlagerung ins Ausland – hat sie sich mittlerweile belesen und spielt mit dem Gedanken, einen offenen Brief an das Gesundheitsministerium zu schreiben. „Ich würde Spahn gern fragen, ob er genauso handeln würde, wenn er selbst betroffen wäre.“

Für ihre eigene Situation bleibt ihr im Moment nichts, außer zu hoffen. „Nach meinen Informationen sollen die Engpässe bei Venlafaxin wohl gegen Ende des Jahres einpegeln. Ich werde dann wohl ab Anfang nächsten Jahres wieder auf Forschungs- und Entdeckungsreise gehen. Das krieg ich schon hin, ich bin doch schon groß“, sagt sie ironisch.

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