Lazarett statt Offizin: Apotheker als Reserveoffizier Tobias Lau, 08.09.2019 12:54 Uhr
Seit über 30 Jahren ist Dr. Eckart Tannhäuser Apotheker – und fast genauso lange Offizier: Der Inhaber der Hirsch-Apotheke im westfälischen Rüthen ist aktiver Reservist. Regelmäßig tauscht er den weißen Kittel gegen Flecktarn und dient als Oberfeldapotheker in der Bundeswehr. Er sieht es als seinen Dienst an der Gesellschaft: „Manche setzen sich für die Altenpflege ein, andere gehen zur freiwilligen Feuerwehr oder zum Rettungsdienst, ich mache eben das“, sagt er.
Dass er mal mehrere Wochen im Jahr auf simulierten Schlachtfeldern verbringen würde, hatte er als Pharmaziestudent nicht geplant. „Ich bin zur Bundeswehr gekommen wie die Jungfrau zum Kinde“, erzählt er. Zumindest war er nicht von Anfang an mit Begeisterung bei der Sache: 1986, da hatte er die Approbation gerade in der Tasche, begann Tannhäuser in Düsseldorf zu promovieren, als das Kreiswehrersatzamt auf der Matte stand. Er wurde zum Wehrdienst eingezogen und musste dafür seine Promotion unterbrechen. „Damals fand ich das ziemlich blöd, aber es hat sich im Nachhinein als Glücksfall herausgestellt.“
Denn die Bundeswehr hatte erhöhten Bedarf an Apothekern und Ärzten. Der junge Tannhäuser musste deshalb nicht wie der gemeine Landser mit dem MG auf der Schulter durch den Wald marschieren und in Erdlöchern hausen, sondern kam an die Sanitätsakademie München. Statt drei Monaten Grundausbildung musste er einen vierwöchigen Lehrgang absolvieren, der „sehr hörsaallastig“ war, wie er es ausdrückt. „Das war eine feine Sache, ich musste nicht durch den Schlamm robben.“ Und das war noch nicht einmal das Beste: Nach Ablauf des Monats wurde Tannhäuser nicht zum Gefreiten, sondern direkt zum Stabsapotheker befördert – äquivalent zum Hauptmann.
Allerdings: Während sich Generationen junger Männer vor allem wegen Kriegsspielen und Trinkgelagen an den Kommiss erinnern, musste Tannhäuser von Beginn an Verantwortung übernehmen. Er verbrachte die restlichen 14 Monate seines Wehrdienstes in Quakenbrück, wo er als stellvertretender Kommandant des dortigen Sanitätsdepots eingesetzt wurde. Denn er wurde gebraucht: „Arzneimittelrechtlich sind Sanitätsdepots Apotheken und die dürfen nun einmal nur von Apothekern geleitet werden“, erklärt er. Immer wenn der Kommandant nicht da war, war Tannhäuser deshalb mit gerade einmal 25 Jahren für rund 100 Untergebene verantwortlich.
Das hat ihn nach eigener Ansicht auch im zivilen Leben weitergebracht. Nach Wehrdienst und abgeschlossener Promotion zog es ihn vorerst nicht in die öffentliche Apotheke, sondern in die Industrie. Er heuerte bei Grünenthal an und wurde aus dem Stand Kontrollleiter, war damit verantwortlich für eine Abteilung mit 30 Mitarbeitern. „Ich glaube, wenn ich direkt von der Uni gekommen wäre, hätte ich diese Stelle nicht bekommen. Ich hatte durch meine Zeit in der Bundeswehr aber schon bewiesen, dass ich Verantwortung übernehmen und Menschen führen kann.“
Ganz los ließ ihn die Armee aber auch im neuen Leben nicht. Hat man seinen Wehrdienst absolviert, ist man automatisch als Reservist registriert und kann – theoretisch – jederzeit eingezogen werden. Im Normalfall hört man nie wieder etwas von der Bundeswehr, aber ehemalige Soldaten mit händeringend gesuchten Qualifikationen – vor allem Apotheker und Ärzte – wurden und werden bis heute regelmäßig angefragt, beispielsweise um Vertretungen wahrzunehmen. Anders als zu Zeiten des Kalten Krieges handelt es sich dabei wohl bemerkt um Anfragen, Tannhäuser könnte auch ablehnen und tut dies manchmal auch, wenn es ihm zeitlich nicht passt.
Doch im Schnitt zweimal im Jahr passt es für ihn, dann geht er meist für zwei Wochen auf Wehrübung im gesamten Bundesgebiet, zuletzt die letzten beiden Augustwochen. Da war der 58-Jährige beim Sanitätsregiment 2 im rheinland-pfälzischen Rennerod für den Aufbau und Betrieb eines Feldlazaretts zuständig. „Das besteht im Wesentlichen aus Containern und Zelten, ist aber ausgerüstet wie ein kleines Kreiskrankenhaus.“ Diese Feldlazarette werden beispielsweise bei Auslandseinsätzen oder Naturkatastrophen verwendet.
Bei der Einheit in Rennerod handelt es sich um eine reine Ausbildungseinheit, hier werden Zeit- und Berufssoldaten in Unteroffiziersrängen der Sanitätstruppe für echte Einsätze geschult. Im Rahmen einer Gefechtssimulation müssen die Soldaten alle Maßnahmen einüben, die im Ernstfall über Leben und Tod entscheiden: Triage, Überlebensmaßnahmen, Notoperationen. „Bei den Operationen geht es aber hauptsächlich darum, die Männer so zusammenzuflicken, dass sie wieder tarnsportfähig sind“, erklärt Tannhäuser.
Dabei ist der Militär-, anders als der Zivilapotheker für sämtliches zur Verfügung stehende Material verantwortlich, von Arzneimitteln – hauptsächlich Injectabilia – bis zu Verbandstoffen, Beatmungstuben oder OP-Geräten. Nicht nur deswegen arbeiten Ärzte beim Bund nach Tannhäusers Aussage besser Hand in Hand, als sie es im zivilen Leben meist tun. „Es gibt dort eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen den Fachgruppen. Ich lerne dort sehr viel von den Ärzten und umgekehrt.“ Während es sich bei den ausgebildeten Unteroffizieren allesamt um Zeit- und Berufssoldaten handelt, sind die Ärzte und Apotheker durchgehend Reservisten. Die meisten der Ärzte betreiben laut Tannhäuser im zivilen Leben eine Praxis.
Und das hat einen Grund: die Vereinbarkeit von Beruf und Reserve. Zwar erhalten Arbeitgeber eine finanzielle Entschädigung für den Arbeitsausfall ihrer Mitarbeiter auf Wehrübung – glücklich sind sie damit aber trotzdem nicht immer. Auch ihm sei in seiner Zeit bei Grünenthal durch die Blume gesagt worden, dass sein Engagement nicht allzu gern gesehen ist. „Die Bundeswehr verfügt zwar über eine riesige Kartei an Reservisten, die meisten können aber fast nie“, erklärt Tannhäuser. „Bei mir würde es ohne meine Frau auch nicht gehen.“ Die ist nämlich auch Apothekerin und hält in der 2001 übernommenen Apotheke die Stellung, wenn ihr Mann an der simulierten Front ist.
Dennoch oder gerade deswegen will Tannhäuser weitermachen. Denn nicht nur sieht er den Personalbedarf der Truppe und hat Vergnügen an den militärischen Übungen. Er setzt sich auch aus Überzeugung ein, für ihn sind die Wehrübungen auch ein Dienst an der Gesellschaft. „Freiheit und Demokratie sind keine Selbstläufer, sondern müssen verteidigt werden“, sagt er.
Das gelte nicht nur für den Kriegsfall, sondern auch innerhalb der Truppe. Debatten um rechte Tendenzen dort seien nicht ganz aus der Luft gegriffen, auch wenn er selbst nie derartige Erfahrungen machen musste. Vor allem seit der Aussetzung der Wehrpflicht sei es besonders wichtig, die Verbindung zwischen ziviler Gesellschaft und Streitkräften möglichst eng zu halten – die Armee brauche überzeugte Demokraten.
Mittlerweile ist der Pharmazeut bis zum Oberfeldapotheker aufgestiegen – äquivalent zum Oberstleutnant, dem zweithöchsten Stabsoffiziersdienstgrad. Nach den Stabsoffizieren kommen nur noch die Generäle. Im Gegensatz zum Generalarzt gibt es in der Bundeswehr allerdings schon seit einigen Jahren keinen Generalapotheker mehr. Tannhäuser gehört damit zu den ranghöchsten Apothekern der gesamten Bundeswehr.