Trotz hoher Inzidenzen spielt Corona derzeit in der öffentlichen Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle. Das ist gefährlich, findet Professor Dr. Thorsten Lehr vom Institut für Klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes. Denn die nächste Welle steht bevor – und die Pandemie laufen zu lassen, sei keine gute Idee, mahnte er bei der Zukunftskonferenz VISION.A powered by APOTHEKE ADHOC.
In den vergangenen drei Jahren sah die Inzidenzkurve laut Lehr im Grunde immer ähnlich aus: Auf ein Abflachen im Sommer folgte ein starker Anstieg im Herbst. Und ebenfalls typisch: Die Raten lagen stets über dem Vorjahr. Das könnte in diesem Jahr zum Problem werden: „Bei den Inzidenzen, die wir aktuell haben, hätten wir uns früher unter den Stein gelegt. Heute meint man, die Party sei offen.“
Seine Warnung: „Wir gehen auf einem brutal hohen Infektionsniveau in den Herbst. Wenn es dann zu exponentiellem Wachstum kommt, macht das Ausgangsniveau einen Riesenunterschied.“ Der Grund für seine Prognose: Die Infektiosität von BA.4/BA.5 sei im Vergleich zum Wildtyp achtmal so hoch. Da seit Beginn der Pandemie alle vier bis sechs Monate eine neue Variante aufgetaucht sei und die Oberhand gewonnen habe, müsse man auch jetzt davon ausgehen, dass BA.4 und BA.5 bald abgelöst werden könnten. „Omikron ist laut Berechnungen schon 2020 aufgetaucht. Die neue Variante müsste also auch längst unter uns sein.“
Ein weiteres Problem: Die Impfbereitschaft sei im Sinkflug, nur drei von vier Erstgeimpften hätten sich auch die Auffrischungsimpfung geholt. „Und die vierte Impfung ist ein Ladenhüter. Die Impfzentren langweilen sich zu Tode, spielen Tetris und müssen den wertvollen Impfstoff irgendwann wegschmeißen.“ Die letzte Impfung sei außerdem bei vielen Menschen schon Monate her – man wisse aber, dass die Wirksamkeit nachlasse.
All diese Überlegungen zeigten deutlich: Es wird ungemütlich. Die Zahl der Infektionen werde wieder deutlich zunehmen – mit Folgen. Eine Überlastung des Gesundheitswesens sei dabei gar nicht das größte Problem. Vielmehr dürften Personalausfälle auf allen Ebenen für Herausforderungen im Gesundheitswesen sorgen. „Wir müssen uns weiter schützen, und zwar selbst“, lautet seine Forderung. Dabei seien Dinge wie Maske beziehungsweise AHA+L, Lüften oder die Nutzung der Corona-Warn-App unerlässlich. „Die Maßnahmen funktionieren, sie müssen nur umgesetzt werden.“
Von Schulschließungen hält er nichts – auch wenn man, und das sei ein großes Versäumnis, im dritten Pandemiejahr immer noch nicht wisse, wo die Menschen sich infizierten. „Das ist das Gemeine an dem Virus, dass man asymptomatischen Menschen die Infektion nicht ansehen kann.“ Daher müssten sich auch die Apotheken schützen: „Ich empfehle jeder Apotheke die Maskenpflicht. Denn hier werden viele Menschen auflaufen, die infiziert sind.“
Was zählt ist dabei das Prinzip der Eigenverantwortung, denn die Politik könne nur einen gewissen Rahmen vorgeben, jedoch nicht mehr jeden Einzelnen schützen. Hier ist die „Pandemüdigkeit“ ein Knackpunkt: „Die Menschen haben keine Lust mehr auf Pandemie“, so der Experte. „Prävention ist unsexy.“ Auch die bevorstehende Grippewelle und die Zunahme weiterer Atemwegserkrankungen seien ebenso Probleme wie die aktuelle Energiekrise, die das Immunsystem schwächen könnten.
Laut Lehr ist es für den Einzelnen wichtig, sich zu schützen. Die Pandemie „einfach laufen zu lassen“, kann laut Lehr nicht die Lösung sein, denn das Risiko von Reinfektionen und Long Covid sei zu groß. „Man sollte das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Studien zeigen, dass das Risiko für Hospitalisierung, aber auch kardiovaskuläre Erkrankungen bis hin zu Diabetes steige. Und dann gibt es noch die große Unbekannte, die Lehr als Long Long Covid bezeichnet: „Jede vierte Krebserkrankung geht auf Viren zurück. Wir wissen nicht, was ein persistierendes Virus auf lange Sicht noch alles auslösen kann.“ Seine Befürchtung: „Wir könnten noch Dinge sehen, die uns nicht gefallen werden. Deshalb muss sich jeder Einzelne schützen.“
Die Aufgaben der Apotheken umreißt er wie folgt: „Aufklären, Impfen, vorhanden Medikamente wie Paxlovid promoten – und durchhalten.“
Und wann ist die Pandemie endlich vorbei? „Wir werden noch einige Saisons mit dem Virus leben müssen, bevor wir in den endemischen Zustand kommen. Fakt ist aber auch, dass das Virus auch dann noch lange nicht harmlos sein wird. Das sieht man bei der Influenza, die tödlich sein kann.“
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