Die Lage ist das A und O. Dieser Grundsatz gilt auch in der Klinikversorgung: Mehr als eine Stunde sollte keine Apotheke bis zum Krankenhaus benötigen, diesen Grundsatz hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) den Beteiligten vor einigen Jahren mit auf den Weg gegeben. Das Verwaltungsgericht Magdeburg (VG) präsentiert jetzt eine neue Lesart: Am Ende kommt es auch darauf an, wie weit es die Apotheke bis zur nächsten Großhandelsniederlassung hat.
Im Streit ging es um einen Vertrag, den die Stern-Apotheke am Hasselbachplatz in Magdeburg mit dem Krankenhaus in Salzwedel geschlossen hatte und der im März 2016 erneuert werden sollte. Die Kammer versagte jedoch ihre Zustimmung: Von der ausgelagerten Krankenhausversorgung in Irxleben an der A2 seien es 93 Kilometer bis zur Klinik, von der Apotheke im Zentrum der Stadt sogar 106 Kilometer, so die Argumentation.
Die Belieferung innerhalb einer Stunde sei damit nicht drin: Je nach Routenplaner würden zwischen eine Stunde und 15 Minuten beziehungsweise eine Stunde und 25 Minuten benötigt. Auf der viel befahrenen Bundesstraße A71 sei obendrein stets mit Staus und Verkehrsbehinderungen zu rechnen. Langsamere Autos könnten aufgrund der Straßenführung nicht uneingeschränkt überholt werden, immer wieder müsse in Ortschaften das Tempo gedrosselt werden.
Zu beachten sei außerdem die Rüstzeit: 15 bis 30 Minuten seien für die Vorbereitung der Auslieferung zu veranschlagen, sodass man bis zur Ankunft der Ware in der Klinik anderthalb bis zwei Stunden einkalkulieren müsse. Eine Akutversorgung im Sinne der gesetzlichen Anforderungen sei damit nicht gewährleistet.
Apotheker Boris Osmann hielt dagegen: Er arbeite seit Längerem mit der Klinik zusammen, absolviere die Strecke regelmäßig innerhalb einer Stunde – insbesondere am Abend und an Wochenenden, also zu Zeiten, in denen unplanmäßige Sonderfahrten erforderlich seien. Zu berücksichtigen sei, dass er aus einer Großstadt in eine strukturschwache Region liefere, was unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit von Vorteil sei: In Magdeburg gebe es mehrere Großhändler sowie ein offizielles Notfalldepot der Uniklinik. Jede näher am Krankenhaus in Salzwedel liegende Apotheke müsse gegebenenfalls erst eine Besorgungsfahrt einplanen, was die Gesamtfahrzeit deutlich erhöhen würde.
Auch habe es nie einen Notfall gegeben. Er beliefere die Klinik immer montags, mittwochs und freitags, insgesamt also circa 150-mal pro Jahr. Hinzu kämen 10 bis 20 Sonderfahrten, bei denen es sich aber regelmäßig um abgestimmte Fälle handele. Eilige Sonderfahrten gebe es nur etwa einmal pro Jahr, nämlich dann, wenn das Notfalldepot in der Klinik aufgefüllt werden müsse. Echte Notfälle habe es seit 2012 nur zwei gegeben: Einmal fehlte ein seltenes Antibiotikum, das dann in einer anderen Apotheke besorgt wurde, einmal ein teurer Gerinnungsfaktor, den die Uniklinik zur Verfügung stellen konnte.
Osmanns Ausführungen überzeugten die Richter. Bei der Vorgabe, dass die räumliche Nähe es ermögliche müsse, Arzneimittel innerhalb einer Stunde zur Verfügung zu stellen, handele es sich um einen „Orientierungswert“. Für die Beantwortung der Frage, ob eine Arzneimittelversorgung „unverzüglich" im Sinne des Gesetzes sei, komme es auf die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls an. „Es ist somit nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ein Versorgungsvertrag im Einzelfall auch dann den Anforderungen […] noch genügen kann, wenn die räumliche Entfernung zwischen der Apotheke und dem zu versorgenden Krankenhaus so groß ist, dass die Lieferung von Medikamenten mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen würde.“
Zwar liegt es laut Gericht in der Natur in der Sache, dass der zeitliche Gesichtspunkt eine gewisse räumliche Nähe zwischen Apotheke und Krankenhaus erfordere. „Die räumliche Nähe ist allerdings nicht das einzige Kriterium zur Bestimmung der Unverzüglichkeit der Arzneimittellieferung.“ So könne „auch durch eine entsprechende organisatorische Ausgestaltung der Medikamentenbevorratung und -bereitstellung dafür Sorge getragen werden, dass die zur akuten medizinischen Versorgung dringend benötigten Arzneimittel entweder bereits im Krankenhaus vorhanden sind oder in der für eine Patientenversorgung nicht gefährdenden Zeit beschafft werden können“.
Dank der Ausgestaltung des Versorgungsvertrags zwischen Stern-Apotheke und Klinikum Salzwedel mit regelmäßiger Belieferung und Depot vor Ort sei die Frage der unverzüglichen Belieferung eigentlich nur für Fälle von Bedeutung, in denen weder Klinik noch Apotheke das entsprechende Medikament vorrätig hätten. Laut Gericht sind daher „die infrastrukturellen Bedingungen und das in der Region, in der sich das Krankenhaus befindet, vorhandene Netz der Versorgungsverbindungen insbesondere zum pharmazeutischen Großhandel von Bedeutung“.
Hier sei die Apotheke in Magdeburg im Vorteil, da sie – das Alliance-Lager in 80 Metern Entfernung – die Lieferung „ohne weitere zeitliche Verzögerung angehen“ könne, während sich jede näher gelegene Apotheke das Medikament erst besorgen müsse. Die Fahrzeit zum Klinikum Salzwedel verkürze sich in diesen – selten auftretenden – Fällen gerade nicht, so das VG.
Von dieser Anschauung rücken die Richter in ihrem Urteil nicht mehr ab. Die Kammer habe jedenfalls keine Apotheke benannt, die besser in der Lage wäre, die Arzneimittelversorgung des Krankenhauses gerade in den unvorhersehbaren Notfällen durchzuführen, in denen dringend benötigte Arzneimittel nicht vorrätig seien.
Auch was die persönliche Beratung des Personals im Krankenhaus angeht, sind laut Gericht die lokalen Gegebenheiten zu berücksichtigen – wie das zu verstehen ist, führen die Richter nicht näher aus. Im Grundsatz sei auch eine telefonische Beratung möglich, nur in wenigen Fällen sei eine Beratung vor Ort erforderlich. Diese nehme der Versorgungsvertrag hinreichend in den Blick.
Dafür geben die Richter der Apothekerkammer noch eine Lektion mit. Deren Vertreter hatten sich zu der Behauptung verstiegen, dass ihr bei der Frage der Unverzüglichkeit ein „gerichtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum“ zukomme. Das sah das Gericht offensichtlich als Anmaßung: Ein effektiver Rechtsschutz sei nur mit der grundsätzlichen Verpflichtung der Gerichte gewährleistet, angefochtene Verwaltungsakte „in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig und uneingeschränkt nachzuprüfen“. „Beruht die angefochtene Entscheidung auf der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, so ist deren verbindliche Konkretisierung Sache der Gerichte.“ Ausnahmen dürften nur vom Gesetzgeber geschaffen werden. Beurteilungsspielraum habe die Verwaltung nur , wenn „die gerichtliche Kontrolle wegen der hohen Komplexität oder der besonderen Dynamik der geregelten Materie an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung stößt“.
Der Fall geht nun vor das Oberverwaltungsgericht (OVG), die Kammer hat bereits Rechtsmittel eingelegt. Osmann kann nicht verstehen, warum sich die Geschäftsstelle sich gegen seinen Vertrag wehrt: Es habe nur einen weiteren Bewerber gegeben, der seines Wissens nach auch nicht schneller liefern könnte. Außerdem sei sein Vertrag noch im Sinne der gesetzlichen Regelungen sowie der Entscheidung des BVerwG. Er selbst sei seit 2002 in der Krankenhausversorgung aktiv und mit zwei größeren und einem kleineren Klinikum einer der größeren Anbieter.
Im Oktober hatte auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in einem ähnlichen Verfahren, dass die Fahrstrecke von einer Stunde nicht als starre Grenze anzusehen sei, sondern im Einzelfall überschritten werden könne. Allerdings müsse die Apotheke ihre besondere Leistungsfähigkeit auch konkret nachweisen, die die längere Lieferzeit kompensieren solle.
Die bloße Behauptung reiche zur Rechtfertigung jedenfalls nicht aus, genauso wenig wie der Verweis auf die bisherige Erfahrung oder die Größe. In dem Verfahren ging es um eine Distanz von 151 Kilometern zum Kreiskrankenhaus sowie 105 beziehungsweise 125 Kilometern zu den weiteren Häusern der Klinik.
Bis 2005 war im Apothekengesetz geregelt worden, dass nur direkt angrenzende Bezirke von einer Krankenhausapotheke beliefert werden dürfen. Diese Einschränkung wurde allerdings aufgehoben. Allerdings muss die Apotheke die Arzneimittel, die das Krankenhaus zur akuten medizinischen Versorgung besonders dringend benötigt, unverzüglich zur Verfügung stellen. Zudem soll eine persönliche Beratung sichergestellt werden.
2012 entschied das BVerwG, dass eine Strecke von 216 Kilometern den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht. In dem Verfahren ging es um einen Versorgungsvertrag St. Franziskus-Hospitals in Münster und des Krankenhauses St- Joseph-Stift in Bremen. Die Richter schlossen sich mit der Zeitvorgabe von einer Stunde den Empfehlungen der Bundesapothekerkammer (BAK) sowie des Bundesverbands Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) und des Bundesverbands der klinik- und heimversorgender Apotheken (BVKA) an.
Die Vorgaben wurden später auch für die Heimversorgung übernommen. So entschied das OVG Nordrhein Westfalen Anfang 2013, dass Apotheken, die Heime beliefen möchten, nicht mehr als eine Stunde entfernt sein sollten.
Zuvor hatte 2008 der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die kumulativen Anforderungen an die räumliche Nähe der versorgenden Apotheke zwar eine Einschränkung des Binnenmarktes darstellen, diese jedoch aufgrund des erzielten Gesundheitsschutzes zu rechtfertigen seien. Die EU-Kommission hatte gegen die deutschen Regelungen geklagt.
Für Aufregung unter dem klinikversorgenden Apotheken hatte im vergangenen Jahr der Klinikkonzern Helios gesorgt: Die Fresenius-Tochter hatte die erste externe Krankenhausapotheke eröffnet. Vom Standort in Wahlstedt aus, 45 Kilometer von Kiel entfernt, versorgt eine neue Niederlassung zehn firmeneigene Häuser mit zusammen 2500 Betten. Eine Neuheit in der Kliniklandschaft: Denn die Helios-Apotheke steht mitten in einem Industriegebiet.
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