Kassenchef Ingo Eisenhart braucht Geld. Zwar sitzt er – wie seine Kollegen auch – noch auf einem bequemen Polster. Die Betonung liegt aber auf „noch“. Will der neue Gesundheitsminister doch die Reserven abschmelzen. Unerhört! Weil Eisenhart ein guter Manager ist, sorgt er rechtzeitig vor. Ausgaben runter, Einnahmen rauf, lautet die Devise. In seiner Verzweiflung kommt ihm eine Idee.
Eisenhart hat sein Team zusammengetrommelt. Will Vorschläge hören. Alte und kranke Versicherte dezent rausmobben, sagt einer. Zu heikel. Diagnosen hochstufen, schlägt ein anderer vor. Um Gottes Willen! Werbung einstellen, Homöopathie streichen, Geschäftsstellen schließen. Wie bitte? Seinen Vorschlag, das Vorstandsgehalt einzufrieren, behält der Praktikant da lieber gleich für sich.
Am Ende kommt doch noch ein Vorschlag, der Eisenharts Augen glänzen lässt. Abrechnungsprüfung, sagt verschüchtert einer aus der Fachabteilung. Gemeinhin unter dem Begriff Retaxation bekannt. Der Kassenchef weiß gleich, was er von dem Vorschlag zu halten hat. Billiger, als eine Leistung umsonst zu bekommen, geht es nicht.
Bei den Kliniken, das muss Eisenhart schnell lernen, ist die Sache allerdings nicht so einfach, wie er sich das vorgestellt hat: Denn wenn die Kürzung nicht rechtens war, muss die Kasse nicht nur den vollen Preis zahlen, sondern auch noch eine Aufwandsentschädigung von 300 Euro. Besser sieht es da bei den Apotheken aus: Hier gibt es Null Retax-Risiko für die Kasse. Und noch besser: Abgesehen von DocMorris & Co. sind Apotheken in der Regel inhabergeführte Kleinbetriebe, die lieber Patienten versorgen, als langwierige Prozesse mit teuren Anwälten zu führen. Das wusste Eisenhart nicht. Er traut seinen Ohren nicht.
Nach dem Treffen geht alles sehr schnell: Fortan wird jede Apothekenabrechnung ungeprüft beanstandet. Erst wenn Widerspruch eingelegt wird, wird die Fachabteilung aktiv. Die ersten Erfahrungen sind positiv: Absetzungen kleinerer Beträge scheinen die Apotheken zerknirscht zu akzeptieren. Und wo es um mehr Geld geht, wird es noch Jahre dauern, bis die Sozialgerichte Zeit finden, um sich mit der Sache zu beschäftigen. Einstweilen stimmt bei der Kasse die Bilanz – und das ist es doch, worum es im Gesundheitswesen eigentlich geht.
Okay, Ingo Eisenhart gibt es nicht und auch (noch) keine Kasse, die ausnahmslos jedes Rezept retaxiert. Und von Zuständen wie in der Schweiz, wo säumige Patienten auf einer schwarzen Liste stehen, sind wir auch noch weit entfernt. Doch es gibt immer wieder Fälle, in denen sich die selbsterklärten Vertreter ihrer Versicherten auf die Apotheken regelrecht eingeschossen haben. Dann schwappt die Retaxwelle durchs Land und reißt mit, was nicht niet- und nagelfest ist. Da spielt es auch keine Rolle, ob es um lebenswichtige Medikamente geht.
Ein Beispiel, der Apotheker und Anwälte schon seit Jahren beschäftigt, ist Oxybutynin. Patienten mit Blasenentleerungsstörung als Folge von Querschnittslähmung, Spina bifida, MS oder anderen neurologischen Störungen sind auf das Parasympatholytikum angewiesen; wenn die orale Gabe nicht infrage kommt, muss der Wirkstoff intravesikal appliziert werden. Ein entsprechendes Fertigarzneimittel gibt es nicht, und so stellt Klaus Stegemann, Inhaber der Grachtenhaus-Apotheke in Hamburg, ein entsprechendes Instillationsset her, das auch Kollegen bei ihm bestellen können.
Das Problem: Es gibt zwar eine NRF-Vorschrift, aber keine Zulassung. Und so stellten sich mehrere Ersatzkassen auf den Standpunkt, dass entsprechende Rezepte von Kinderärzten gar nicht hätten beliefert werden dürfen. Und jetzt kommt‘s: Die Sozialgerichte bis hin zum BSG in Kassel halten die Nullretaxationen für unzulässig. Wunder geschehen doch noch.
Die AOK Sachsen-Anhalt hat es derweil auf Rezepturen abgesehen, bei denen die Gebrauchsanweisung auf dem Rezept fehlt. Entsprechende Abrechnungen werden auf „0“ gekürzt, eine Heilung ist im Nachhinein ausgeschlossen. Andere Kassen wie die IKK Classic oder die DAK ziehen mit – es droht die nächste Retaxwelle. Aus gegebenem Anlass noch der Hinweis: Die PZN 09999011 ist nicht in allen Fällen die richtige.
Da haben es Versandapotheken leichter, bei ihnen sind Rezepturen so selten, dass man schon reflexartig an einen Testkauf denkt. „Apotheke oder DocMorris: Wo kaufst du besser Medikamente?“ Schön, dass Orange by Handelsblatt in dieser Frage gründlich nach Antworten suchte. Die Pempelfort-Apotheke in Düsseldorf konnte gegen den Versender klar punkten, Glückwunsch. Die Macher vom ARD-Mittagsmagazin schlagen sich derweil immer noch mit wütenden Reaktionen auf ihren weniger differenzierten Beitrag aus der Vorwoche herum. Selbst ABDA-Präsident Friedemann Schmidt sah sich veranlasst, der Redaktion zu schreiben.
Dass DocMorris & Co. Wettbewerbsvorteile genießen, weil sie – wie der Europäische Gerichtshof befand – Standortnachteile haben, daran ist man mittlerweile gewöhnt. Das geht soweit, dass sogar Kassen, die eigentlich nicht für EU-Versender werben dürfen, nicht bestraft werden, wenn sie es doch tun. Presseprivileg, befand das OLG München und zog sich damit gekonnt aus der Affäre.
Also liegt der Ball doch bei Jens Spahn (CDU). Er war noch nie ein Freund des Rx-Versandverbots, muss als Gesundheitsminister aber den Koalitionsvertrag umsetzen. Findet auch CDU-Gesundheitsexperte Alexander Krauß: „Der Koalitionsvertrag gilt unabhängig davon, wer Minister ist.“ Man müsse jetzt zügig Nägel mit Köpfen machen.
Spahn selbst blieb auch in dieser Woche unverbindlich: Die Zusage stehe im Koalitionsvertrag, so Spahn im Chat mit Parteifreunden. Wenn das Europarecht es zulasse, werde dies umgesetzt. Sein Ressort prüfe dies derzeit. „Wir werden sehen, was geht.“ Allerdings ließ Spahn Skepsis durchblicken: Ein früherer Entwurf „hat es nicht so weit geschafft“, spielte er auf die Gesetzesvorlage von Amtsvorgänger Hermann Gröhe an.
Viel wahrscheinlicher ist, dass Spahn das Apothekenhonorar neu gestaltet. Nur hat er von der Vorgängerregierung das vom Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) beauftragte Gutachten geerbt. Die ABDA will sich damit nicht auseinandersetzen, macht lieber auf #unverzichtbar. Jetzt hat aber Dr. Frank Diener, Generalbevollmächtigter der Treuhand Hannover, das Gutachten „zerpflückt“. Und dem BMWi schwere Vorwürfe gemacht: Es habe das Gutachten um den Aspekt des Rx-Versandhandels erweitert, um es besser „vermarkten“ zu können.
Freilich, ein Zahlenkrieg ist schwer zu gewinnen, vor allem wenn man nicht die Deutungshoheit hat. Die in der Arge Parezu zusammengeschlossenen Zyto-Apotheker haben sich trotzdem entschlossen, eine Vollkostenanalyse zur Ermittlung einer neuen Herstellpauschale durchzuführen. Alle Apotheken, die sich auf die Herstellung parenteraler Zubereitungen spezialisiert haben, seien aufgerufen, sich an einer Studie zu beteiligen. Einstweilen, so fordern sie, soll die Hilfstaxe gekündigt werden.
Verständlich, dass so mancher Kollege bei soviel Ärger die Lust am Beruf verliert. Zumindest solche ohne Clan-Connection. Der eine zieht die Reißleine, der andere wird Parfümeur. Der dritte hat sich schon im Studium für eine Karriere als Starfrieseur entschieden. Und der vierte zieht sich in seinen Panicroom zurück und sieht zu, wie der Shitstorm gegen die DHU vorbeizieht. Für wen das alles nichts ist, der kann es ja als Hypnotiseur versuchen. Aber Vorsicht: Trance macht abhängig! Schönes Wochenende.
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