In großen Konzernen müssen Apotheker mit Führungspositionen mitunter moralische Aspekte hintenanstellen. Davon geht Dr. Christoph Küster aus, der mehr als 20 Jahre für die Industrie tätig ist. Der Apotheker war bei Salutas (Novartis), Boehringer-Ingelheim und Sanofi-Aventis beschäftigt. Zudem ist er Vorsitzender der Fachgruppe Industriepharmazie bei der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG). Er erklärt im Interview, welche Spannungsfelder es in der Industrie gibt und wie sich Vor-Ort-Apotheken als attraktiver Arbeitgeber behaupten könnten.
ADHOC: Warum wechseln Industrieapotheker trotz des schlechteren Gehaltes zurück in die Offizin?
KÜSTER: Das kann viele Gründe haben. Manche wollen selbstständig sein und in kleineren Teams arbeiten. In der Produktion hat eine Führungskraft schnell eine Personalverantwortung für 30 bis 40 Beschäftigte. Andere tun sich mit Konzernstrukturen schwer. Bei vielen liegt es auch an der Hierarchie-Ebene, in der sie sich nicht mehr wohl fühlen. Ich selbst habe die Industrie als Angestellter gerade verlassen, weil ich zwei Ebenen über meiner „politischen“ Kompetenz angelangt bin.
ADHOC: Das heißt?
KÜSTER: In großen Konzernen arbeitet das mittlere und obere Management nicht nur noch für das Unternehmen selbst, sondern auch sehr stark für die eigene Karriere. Das sieht man in der Pharmaindustrie, aber auch in anderen Bereichen. Denken sie an Volkswagen oder die Deutsche Bank. Ab einer bestimmten Position ist man sehr damit beschäftigt, Intrigen abzuwehren oder selbst zu spinnen, um voranzukommen. Weiter einen richtig guten Job zu machen, reicht irgendwann nicht mehr. Wer nicht mitmacht, hat es schwerer.
ADHOC: Apotheker brauchen in der Industrie also ein dickes Fell?
KÜSTER: Die Situation ist schwer vergleichbar. Die Apotheke vor Ort ist eingeschränkt, was das wirtschaftliche Optimierungspotenzial angeht. Das einzige, was der Leiter von seinen Mitarbeitern verlangen kann, um den Gewinn zu steigern, ist mit Nachdruck Zusatzverkäufe zu generieren. Bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln kann man nichts optimieren. In der Industrie ist das anders. In den Bereichen, wo es um Investitionen in Millionenhöhe geht, werden Qualität und Effizienz permanent verglichen. In der Produktion gibt es für den Abteilungsleiter ständig Diskussionen um Nutzen und Kosten. Das kann man persönlich als unmoralisch empfinden.
ADHOC: Welche Spannungsfelder gibt es?
KÜSTER: Wenn im Produktionsprozess beispielsweise Abweichungen auftauchen, muss im Rahmen des Qualitätssicherungssystems nach Ursachen und Auswirkungen gesucht werden. Dementsprechend müssen Maßnahmen ergriffen werden. Kollegen aus der Qualitätssicherung beurteilen Sachverhalte öfter mit der pharmazeutischen Brille und nicht nach Effizienz. Ein Produktionsleiter muss letztlich bewerten, welche wirtschaftliche Lösung er im Sinne des Unternehmens findet, beispielsweise ob mehr Personal benötigt wird. Das kann bis zu Diskussionen gehen, ob eine Charge entsorgt werden muss, obwohl die Auswirkungen letztlich nichts mit der Arzneimittelwirkung zu tun haben.
ADHOC: Industrieapotheker müssen also abgebrüht sein?
KÜSTER: Nein. Aber sie müssen in Positionen mit Verantwortung mit diesen Spannungsfeldern umgehen können. In der Produktion gehören solche Konflikte zum Alltag. Wie ein Apotheker damit umgeht, ist Typsache. Hilfreich sind Erfahrung und ein gewisses Selbstbewusstsein, dass man sich und seinen Standpunkt vertreten kann. Apotheker führen diese Diskussionen übrigens am selbstbewusstesten. Schwerer tun sich dagegen Chemiker oder Betriebswirte, weil sie die Auswirkungen auf Patienten wegen der fehlenden Ausbildung nicht so gut beurteilen können.
ADHOC: Gibt es auch in der Industrie einen Apothekermangel?
KÜSTER: Der Bedarf wird immer größer. Apotheker werden massiv gesucht. Gerade in den Bereichen Produktion und Qualitätssicherung werden Pharmazeuten benötigt. Dort passen sie wegen ihrer Ausbildung und Kompetenz optimal hin.
ADHOC: Wann bietet sich ein Wechsel in die Industrie an?
KÜSTER: Am besten direkt nach dem Studium. Das ist ideal, da Berufseinsteiger frisch und unverbraucht sind. Sie sind formbar und können schnell viel Informationen aufnehmen. Das ist ein wichtiger Faktor in der Pharmaindustrie. In der Apotheke kommen nicht so viele neuen Sachverhalte auf einen zu.
ADHOC: Ist Promotion Pflicht?
KÜSTER: Das ist ein Irrglaube, mit dem ich seit langem bei meinen Vorträgen an Hochschulen aufzuräumen versuche. Mit einem Doktortitel verdient man dem Tarifvertrag zufolge auch nicht zwangsläufig mehr. Denn der Unterschied ist nicht mehr so groß, wenn man bedenkt, dass das Gehalt eines Nichtpromovierten nach drei bis fünf Jahren bereits 20 Prozent über dem Einstiegslohn eines Promovierten liegen kann. Wichtiger ist Berufserfahrung etwa durch Praktika bei Studienabgängern.
ADHOC: Sind zehn Jahre Offizinarbeit ein Ausschlusskriterium für die Industrie?
KÜSTER: Nein. Wer lange in der Offizin gearbeitet hat, kann trotzdem Fuß in der Industrie fassen, wenn er für neue Sachverhalte offen ist. Natürlich ist eine Konzernstruktur das komplette Gegenteil zur Apotheke vor Ort. Es gibt für alles einen Prozess. Wer einen neuen Stuhl möchte, findet entsprechend vorgegebene Wege, um an diesen zu gelangen. Man kann das furchtbar kompliziert empfinden, anderen gibt es Sicherheit.
ADHOC: Wie können sich Vor-Ort-Apotheken gegenüber der Industrie als Arbeitgeber behaupten?
KÜSTER: Dass Apotheker mit der Industrie nicht um das Gehalt konkurrieren können, ist klar. Grundsätzlich ist es eine Richtungsentscheidung. Wer in die Apotheke wegen der Patientenarbeit will, fühlt sich in der Industrie natürlich nicht wohl. Für junge Leute ist der Einstieg in die Offizin aber zunehmend unattraktiver, da sie mehr als „Schubladenzieher“ sein wollen. Während ich vor 15 Jahren noch Werbung in den Universitäten für die Industrie gemacht habe, ist es jetzt so, dass der Nachwuchs aktiv nachfragt. Da gibt es eine deutliche Veränderung. Viele Jungpharmazeuten zieht es in Kliniken, um wieder mehr pharmazeutisch zu arbeiten. Doch dort gibt es immer weniger Stellen. Vor-Ort-Apotheken müssten mehr Verantwortung erhalten und mit Ärzten auf Augenhöhe liegen, um wieder attraktiver für den Nachwuchs zu sein.
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