„Retaxation ist kein Einnahmegeschäft“ Alexander Müller, 04.05.2016 12:10 Uhr
Retaxationen sind der große Zankapfel zwischen Apothekern und Krankenkassen. Sven Seißelberg ist selbst Apotheker – und bei der KKH in der Abteilung Arzneimittelmanagement für die Rezeptkontrolle zuständig. Mit APOTHEKE ADHOC sprach er über „Rubbelretax“, Blanko-Schecks bei der Rezeptabrechnung und die Gefahr der Kassen, selbst retaxiert zu werden. Seißelberg zufolge müsste bei mancher Retax zusätzlich die Aufsicht eingeschaltet werden.
ADHOC: Die KKH gilt Apothekern als besonders „schlimme“ Retax-Kasse. Sind Sie strenger als andere?
SEIßELBERG: Bei der Retaxation kleiner formaler Fehler gab es andere Protagonisten. Retaxationen wegen einer fehlenden Telefonnummer des Arztes auf dem Rezept gibt es bei uns nicht. Wir betrachten viele Dinge mit Augenmaß, solange es nicht die Rabattverträge betrifft. In diesem Bereich setzen wir das Urteil des Bundessozialgerichts konsequent um. Da wir uns früh dazu entschieden haben, auch Verträge mit Originalherstellern abzuschließen, fallen etwaige Nullretaxationen natürlich höher aus. Nach der Entscheidung aus Kassel gab es um den Jahreswechsel 2014/2015 eine größere Welle an Retaxationen. Das war natürlich intensiv und wurde auch so wahrgenommen. Grundsätzlich ist es aber nicht unser Ziel, das Retax-Ranking von APOTHEKE ADHOC anzuführen.
ADHOC: Sind Einsparungen das Ziel?
SEIßELBERG: Retaxation ist kein Einnahmegeschäft. Wenn die Rabattverträge nicht eingehalten werden, verliert die Kasse sehr viel Geld. Deshalb müssen wir auf die Umsetzung der Verträge achten. Es gibt ein monetäres Interesse, aber das hat nichts mit der Retaxation zu tun. Die Kassen erhalten bestimmte Zuweisungen aus dem Morbi-RSA nur, wenn zu der gestellten Diagnose auch das passende Arzneimittel abgegeben wird. Verrechnet eine Apotheke etwa die Methadon-Abgabe in der Drogenersatztherapie als Rezeptur und nicht mit der korrekten Sonder-PZN, bekommen wir weniger Geld aus dem Fonds. Die Abgabe an sich wird dadurch nicht teurer, aber die Kasse wird wegen mangelnder Datenqualität gewissermaßen selbst retaxiert. Das ist der Grund, warum wir manchmal so formell unterwegs sind.
ADHOC: Nicht alle Retaxationen sind solche Spezialfälle...
SEIßELBERG: Der Bundesrechnungshof verlangt von den Krankenkassen, dass sie ihre Rechnungen gewissenhaft kontrollieren. Das ist doch keine Schikane. Wenn ein Dachdecker drei Dachschäden zu viel berechnet, würden Sie das doch auch nicht bezahlen. Wir zahlen die Rechnungen der Apotheken gewissermaßen als „Blankoscheck“ vorab, die Kontrolle kann erst Monate später erfolgen. Leider werden Abgabe und Retaxationen damit zeitlich aus dem Zusammenhang gerissen, was natürlich zu Ärger führt.
ADHOC: Sie glauben nicht, dass Retaxationen wegen Formfehlern zu Ärger führen?
SEIßELBERG: Was ist eine „Formretax“ und was nicht? Das ist eine Frage der Definition. Wenn der Arztstempel fehlt, ist das ein formaler Fehler. Das Rezept ist aber damit eigentlich gar nicht gültig. Streng genommen müsste die Kasse sogar die Aufsichtsbehörde einschalten, denn es liegt auch ein berufsrechtlicher Verstoß vor.
ADHOC: Sie sind selbst Apotheker. Gefährdet die ausufernde Rezeptkontrolle nicht irgendwann eine gute Versorgung der KKH-Versicherten?
SEIßELBERG: Dass die Regeln kurioser werden, ist unbestritten. Leider sind die Vorgaben nicht immer transparent oder nachvollziehbar, denken Sie an nicht normierte Packungsgrößen. Ziel der Kontrollen ist auch eine höhere Arzneimitteltherapiesicherheit.
ADHOC: Wieso ist eine Korrektur dann nicht möglich, wenn der Arzt die Verordnung nachträglich bestätigt?
SEIßELBERG: Die Apotheken können Fehler vor der Abrechnung selbst beheben. Sofern die Korrektur keinen manipulativen Charakter hat – denken Sie an die berühmte „Rubbelretax“ –, ist das auch in Ordnung. Ich kenne die abendliche Rezeptkontrolle noch aus meiner Zeit in der Apotheke. Der magische Punkt ist, wenn das Rezept an die Krankenkasse geschickt wird.
ADHOC: Sie haben eben gesagt, es gehe um Arzneimittelsicherheit. Wie passt das zusammen?
SEIßELBERG: Natürlich sollte das Rezept bei Abgabe korrekt sein. Aber wir können schlichtweg nicht überprüfen, was der Apotheker vor der Abrechnung damit macht. Eines der guten Ergebnisse des Pharmadialogs ist die geplante schnelle Einführung des elektronischen Rezeptes. Denn damit lassen sich die ganzen formalen Probleme auf einen Schlag lösen. Deshalb finde ich die Blockade aus der Apothekerschaft gegen dieses Thema erstaunlich, zumal das E-Rezept weitere Arbeitserleichterungen bringen würde. Die Sorge vor einer Verlagerung von Umsätzen in den Versandhandel kann ich zwar im Grundsatz nachvollziehen, halte sie aber für übertrieben. Aus meiner Sicht würde es mehr Vorteile als Nachteile geben. Übrigens auch für uns: Dass Millionen von Rezepten sechs Jahre lang eingelagert werden müssen, verursacht Kosten.
ADHOC: Retaxationen zu Centbeträgen verursachen in der Apotheke auch unverhältnismäßigen Aufwand.
SEIßELBERG: Neulich hat sich wieder eine Apotheke wegen einer Retaxation von 48 Cent bei uns gemeldet. Tatsächlich war das aber nur ein Teilbetrag, die gesamte retaxierte Summe war höher. Hätte der Apotheker die berechtigte Absetzung hingenommen, wäre also kein Aufwand entstanden. Wir können aber auf der anderen Seite kleine Beträge nicht einfach durchgehen lassen, denn dann kommt der nächste mit 50 Cent und der übernächste mit 60 Cent. Bei mehreren hundert Millionen Verordnungen können die Kassen da nicht drüber hinwegsehen. Denn es bleibt eine falsche Rechnung.
ADHOC: Die KKH lässt ihre Rezepte nicht mehr von Interforum prüfen, sondern von GfS. Macht das für die Apotheken einen Unterschied?
SEIßELBERG: Das würde mich wundern. Es stimmt, dass wir Mitte 2013 den Anbieter gewechselt haben, aber die Prüfkriterien sind dieselben geblieben. Der Dienstleister setzt unsere Vorgaben um und an denen haben wir nichts Maßgebliches geändert. Die Dienstleister bekommen von uns übrigens auch keine Provision für Retaxationen, sondern einen vereinbarten Betrag für jeden Beleg, den sie überprüfen. Das heißt, GfS würde von uns auch Geld bekommen, wenn sie keine Fehler finden würden. Allerdings müsste man dann den Vertrag überdenken…
ADHOC: Wie viele Retaxationen sprechen Sie aus und wie oft legen Apotheker erfolgreich Widerspruch ein?
SEIßELBERG: Bitte haben Sie Verständnis, dass wir Zahlen aus diesem Bereich nicht kundtun. Denn wie wir mit Einsprüchen umgehen, ist natürlich auch eine strategische Positionierung. Das Retaxaufkommen ist aber relativ konstant – mit einem Schub nach dem BSG-Urteil.
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