Die „Jäger von Röckersbühl“ gehören zu den gefragtesten Werbeagenturen im OTC-Bereich. Firmenchef Martin Dess arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit Apothekern zusammen. Er macht sich Sorgen, dass der Berufsstand und die Branche insgesamt den Aufbruch in eine neue digitale Ära verschlafen. Ohne visionäre Ideen könnten Internetkonzerne wie Google Teile des Marktes übernehmen, sagt er.
ADHOC: Was hat Google mit Apotheken zu tun?
DESS: Google und Apple sammeln einen stetig wachsenden, immensen Wissenspool über den Gesundheitszustand von Patienten. Ärzte und Apotheker haben da das Nachsehen. Bewegungs- und Schlafverhalten, Vitaldaten und Essgewohnheiten werden digital erfasst und in Apps analysiert. Der nächste logische Schritt ist dann die Beratung und Empfehlung auf Basis eben genau dieser Daten. Das bringt alle Beteiligten im Gesundheitswesen unter Druck – wenn wir es akzeptieren, dass Internetkonzerne anhand der gesammelten Informationen bestimmen, welche Behandlung ratsam ist oder welche Medikamente vom Patienten eingenommen werden sollen.
ADHOC: Warum sollten sie das?
DESS: Patienten werden das Monitoring ihrer Gesundheit immer häufiger selbst in die Hand nehmen. Und das gilt nicht nur für Fitnessfreaks, die beispielsweise Socken kaufen, die das Abrollverhalten beim Laufen messen. Die US-Regierung hat einen Wettbewerb für ein Gerät ausgeschrieben, das bis zu 15 Krankheiten erkennen kann. Ziel ist es, dass diese Innovation in zwei Jahren als Prototyp verfügbar ist und zukünftig in jedem Haushalt zu finden sein wird. Aber damit längst nicht genug. E-Health wird in vielen Facetten zu uns nach Hause kommen und für jeden von uns verfügbar sein. Der Arzt wird per Videokonferenz bei Ihnen und mir im Wohnzimmer Sprechstunde halten. Schon heute können Sie selbst mit dem iPhone Fieber messen, mithilfe von Apps Ihr Hautkrebsrisiko bestimmen oder mit einem speziellen Pflaster die Schwellung nach einer Knieverletzung messen – und die passende Salbe wird in Kürze auch gleich dazu geliefert.
ADHOC: Glauben Sie wirklich, dass die Menschen Google so viele Informationen über sich preisgeben?
DESS: Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Der sensible Umgang mit den persönlichen Gesundheitsdaten ist natürlich wichtig. Nichtsdestotrotz werden die Erfassung und Weitergabe von Daten und Informationen weiterhin zunehmen. Die Dynamik der Informationen im Internet ist immens hoch. Da führt an einer intelligenten Selektion kein Weg vorbei. Und so viel steht fest: Der Nutzen aus den preisgegebenen Informationen wird die Skeptiker überzeugen.
ADHOC: Was ist der Ausweg?
DESS: Früher waren Apotheker die zentralen Ansprechpartner für Gesundheitsfragen. Heute sind sie in einem besonderen Maß auf die Logistikfunktion mit angeschlossener Beratungskompetenz beschränkt. Apotheker wissen viel über ihre Kunden. Sie kennen sie persönlich, heißt, bei ihnen kommen ebenfalls viele relevante Informationen zusammen. Die müssen sie genauso intelligent nutzen, wie es die neuen digitalen Systeme tun. Die Kundenkarten von heute, sind wir ehrlich, sind vor allem Rabattkarten. Und einen Verdrängungswettbewerb über eine Rabattschlacht kann niemand wollen.
ADHOC: Wie nutzt man als Apotheker seine Kundendaten intelligent?
DESS: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Anfang des Jahres bin ich Vater geworden. Da, wo ich herkomme, kennt man sich untereinander. Elf Apotheken gibt es bei uns im Ort. Lediglich eine einzige Apotheke hat mir eine Karte geschickt und gratuliert. So weit, so gut. Natürlich bin ich dann für die Erstausstattung in diese Apotheke gegangen. Ich wäre bereit gewesen, ohne Weiteres 500 Euro für die wichtige Ausstattung rund ums Baby auszugeben oder – und das meine ich mit intelligenter Nutzung von Daten – zum Beispiel ein monatliches Abo für 20 Euro zu buchen. Nun kommt es: Wissen Sie, was ich mit nach Hause genommen habe? Nur eine Babycreme und ein Fieberthermometer!
ADHOC: Warum konnte Ihrer Meinung nach die Apotheke ihr Wissen nicht nutzen?
DESS: Weil ihr ein intelligentes Konzept fehlt. Sie hat keine Systeme an der Hand, mit denen sie die Kundenbedürfnisse erkennen und gezielt Produkte und Lösungen verkaufen kann. Es gibt keine bessere Kundenbindung als beispielsweise ein monatliches Abo für Eltern. Hier kann eine individuelle Apotheken-Baby-App, die die am Markt verfügbaren Tracking-Tools für Pulserfassung, Körpertemperatur, Bewegungsmuster, Ernährung, Still- und Schlafverhalten integriert bündelt und daraus abgeleitet Empfehlungen ausspricht, ein intelligenter Ansatz sein.
Solche oder ähnliche Konzepte müssen Apotheken entwickeln und in den einzelnen Bereichen gezielt und konsequent umsetzen. Die Apotheken sollten nicht erwarten, dass irgendjemand zu ihnen kommt und einen Rahmen entwickelt, in dem dann nur noch das Produkt verteilt werden muss. Dieser visionäre Gedanke, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und die Produktangebote auszuweiten, fehlt den Apothekern oftmals. Großteile der Branche bedienen sich an den etablierten Systemen, die ihre Berechtigung am Markt gefunden haben, aber in fünf Jahren nicht mehr die Zukunft prägen werden.
ADHOC: Die Apotheken haben das Problem, dass das System sie in diese Rolle zwängt.
DESS: Mag sein, dass zwischen Rabattverträgen und Retaxationen dafür keine Zeit zu bleiben scheint. Ich bin davon überzeugt, dass die Apotheker sich aus dem Hamsterrad befreien müssen. Wenn sie eine aktive Rolle spielen und sie eine Perspektive entwickeln wollen, dann müssen sie den Kunden wieder verstehen und sich als Gesundheitscoach positionieren. Sonst werden sie auf Dauer zu den Verlierern gehören, sowohl was das Geschäft als auch die Freude am Beruf angeht. Apotheker jammern gelegentlich darüber, dass sie ihren ursprünglich erlernten Beruf in der täglichen Praxis nicht ausleben können. In genau dieser fachlichen Kompetenz sehe ich die große Chance auf Umsatz, der aus einer Beratungsleistung entsteht.
ADHOC: Gibt es auch positive Beispiele?
DESS: Andere Branchen und Industrien haben diese Entwicklung hinter sich oder sind mitten im Umbruch. Ich denke da an den Einzelhandel. Wenn ich beispielsweise Ausstattung zum Laufen brauche, gehe ich in „mein“ Sportgeschäft vor Ort und kaufe nicht im Internet und auch nicht im Kaufhaus. Das hat einen einfachen Grund: Dort haben sie sich spezialisiert und bieten exzellente Beratung mit modernster Technologie an. Dort fühle ich mich bestens aufgehoben.
ADHOC: Patienten brauchen aber nicht nur Spezialisten, sondern Generalisten.
DESS: Es geht nicht darum, dass Apotheken sich auf bestimmte Indikationen spezialisieren sollen. Es geht darum, über integrierte Behandlungsabläufe einen Mehrwert für die verschiedenen Patientengruppen zu bieten. Es gibt einige große Indikationen, die es zuvorderst abzudecken gilt. Wir haben beispielsweise fünf Gesundheitstypen identifiziert, die ganz unterschiedliche Krankheitsrisiken haben und denen man ganz unterschiedliche Konzepte anbieten kann. Man sollte einfach einmal anfangen und Innovation leben.
ADHOC: Wie könnte so etwas funktionieren?
DESS: Das fängt beim Kontaktpunkt Schaufenster an. Die „Auslage“ ist das Aushängeschild der Apotheke und muss dazu einladen, dass man hinsieht, dass man sich mit ihr auf irgendeine Weise beschäftigt. Oder anders: Das Schaufenster muss „arbeiten“. Ich lasse mir von jedem unserer Außendienstmitarbeiter immer wieder Fotos von Apothekenschaufenstern zusenden. Erschreckend, wie selten etwas wirklich Inspirierendes dabei ist. Bestenfalls schaut das in vielen Fällen ganz „nett“ aus. Dabei kann die Ansprache ganz schlicht funktionieren. Bei uns in Neumarkt gibt es eine Apotheke, da können Kinder am Fenster ihre Hände in Passformen legen und dann erklingen Vogelstimmen. Das hat zwar nichts mit Pharmazie zu tun – aber die Eltern der Kleinen werden animiert, an die Apotheke heranzutreten, und kommen so auf unterhaltsame, spielerische Weise mit dem POS in Kontakt.
ADHOC: Brauchen die Apotheker professionelle Unterstützung?
DESS: Meiner Meinung nach kann den Apothekern niemand die Verantwortung für ihr Geschäft abnehmen. Wenn sie sich aber entschieden haben, einen neuen Weg zu gehen, wird es sicher auch einen Markt für Dienstleister geben. Wer jetzt mit einem klugen Konzept beginnt, wird garantiert reiche Ernte einfahren.
ADHOC: Kommen jetzt die Jäger ins Spiel?
DESS: Natürlich können Dienstleister Impulse setzen. Aber es können genauso gut Hersteller sein, die sich dadurch profilieren, dass sie den Apothekern helfen, ihren Alltag besser zu meistern. Oder Apothekerverbände: Von den Apothekenkooperationen müsste man mehr nachhaltige Konzepte erwarten statt vereinzelter Aktionen, die oft in Rabatten münden.
ADHOC: Wie viel Zeit bleibt?
DESS: Ich gehe davon aus, dass es in den kommenden fünf Jahren grundlegende Veränderungen geben wird. Wir sollten uns davor hüten, die Entwicklung zu bagatellisieren. Apple hat erkannt, dass zwei Drittel seiner Gesundheitsapps bislang keinen Mehrwert liefern, und die Messlatte deutlich höher gelegt. Google & Co werden seriöse Mitanbieter werden. Auch eine Blockade über den Datenschutz wird scheitern. Gesundheit wird grenzenlos, darauf muss sich die Gesundheitspolitik einstellen. Wenn der Patient eine schnelle Einschätzung oder Bewertung haben möchte, wird er auch nicht davor zurückschrecken, einen Arzt mit Sitz im Ausland zu konsultieren.
ADHOC: Wen betreffen diese Veränderungen stärker, wen weniger?
DESS: Keiner kann so weitermachen wie bislang. Wenn wir nicht wollen, dass dieser Bereich an uns vorbeigeht, müssen wir uns alle mit dem Thema beschäftigen: Apotheken, Ärzte, Hersteller, Agenturen und so weiter. Hersteller beispielsweise investieren mit hohen Budgets in Werbekampagnen in Zeitschriften und im Fernsehen – einfach nur, weil sie das immer schon so gemacht haben. Weiter weg vom Kunden kann man eigentlich nicht sein. Das Internet bietet so viele Möglichkeiten – bis hinein in die Apotheke.
Was die Apotheken angeht, gilt der Grundsatz „Back to the roots“. Apotheken müssen Lotsen sein, Coaches für die Patienten, erste Ansprechpartner in Gesundheitsfragen, vielleicht auch die Hüter der Gesundheitsdaten. Wenn wir dafür integrierte Ansätze entwickeln, werden wir alle auch in Zukunft erfolgreich sein.
Mehr als 20 Jahre ist es her, dass Martin Dess den elterlichen Bauernhof verkauft hat, um sich mit einer Werbeagentur selbstständig zu machen. Zu seinen ersten Kunden gehörten mehrere Apotheker; er kennt daher die Bedürfnisse und Besonderheiten des Berufsstands besser als die Konkurrenz. Der Phytohersteller Bionorica etwa wäre ohne die POS-Konzepte der „Jäger von Röckersbühl“ heute nicht dort, wo er steht. Auch für Klosterfrau, Johnson & Johnson, Bayer, Weleda, Pharmatechnik und Walter Bouhon sind oder waren die Experten aus der Oberpfalz bereits aktiv; jüngster Neuzugang ist Hexal. Ansonsten ist die Gruppe auch für Kunden außerhalb des Pharmasegments aktiv – Wissenstransfer über Branchen hinweg ist, lautet das Motto. An drei Standorten arbeiten rund 155 Mitarbeiter.
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