Importe gegen Engpässe: Wildwest in Apotheken Patrick Hollstein, 25.08.2023 10:39 Uhr
Mit einer Dringlichkeitsliste will Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) drohende Engpässe bei einer ganzen Reihe von Kinderarzneimitteln auf einmal abfedern, konkret: den Massenimport erlauben. Abgesehen von ethischen und auch ganz pragmatischen Fragen ist die Idee vor allem eines – eine Bankrotterklärung: Denn schon jetzt gibt es so viele verschiedene Konstellationen, dass kaum noch jemand den Überblick hat, welches Arzneimittel eigentlich in welcher Sprache und zu welchem Preis abgegeben werden darf.
Im Grunde gibt es drei unterschiedliche gesetzliche Möglichkeiten, um mit gelockerten Vorschriften auf Engpässe zu reagieren.
AMG
Mit § 79 war im Arzneimittelgesetz (AMG) eine Regelung zur Sicherung der Arzneimittelversorgung in „Krisenzeiten“ eingeführt worden. Demnach kann das Bundesgesundheitsministerium (BMG) bei „Arzneimitteln, die zur Vorbeugung oder Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen benötigt werden“, einen Versorgungsmangel erklären. Nach Veröffentlichung der Entscheidung im Bundesanzeiger können die zuständigen Behörden im Einzelfall gestatten, dass in Deutschland nicht zugelassene Arzneimittel befristet in Verkehr gebracht werden. In diesen Fällen handelt es sich formal nicht um einen Einzelimport nach § 73 AMG, dessen Abgabe bekanntlich genehmigungspflichtig wäre. Außerdem kann in diesen Fällen auf bestimmte reguläre Vorgaben etwa zu Aufmachung oder Beipackzettel verzichtet werden.
MedBVSV
Im selben Paragraphen wird das BMG aber auch ermächtigt, Rechtsverordnungen zu erlassen, „wenn die notwendige Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln sonst ernstlich gefährdet wäre und eine unmittelbare oder mittelbare Gefährdung der Gesundheit von Menschen durch Arzneimittel nicht zu befürchten ist“. Genutzt wurde die Möglichkeit zu Beginn der Corona-Pandemie mit der „Medizinischer Bedarf Versorgungssicherstellungsverordnung (MedBVSV)“, die mehrfach verlängert wurde und Ende des Jahres endgültig ausläuft. Demnach kann die zuständige Bundesoberbehörde „im Einzelfall anordnen, dass [...] Arzneimittel ohne eine Kennzeichnung und Packungsbeilage in den Verkehr gebracht werden dürfen, wenn dies zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln erforderlich ist“.
Allgemeinverfügung
Die Bundesländer haben dann noch die Möglichkeit, eine Allgemeinverfügung zu erlassen und so bestimmte Regelungen zum Inverkehrbringen außer Kraft zu setzen. Die Vorgaben gelten dann nur für die Hersteller, die ihren Sitz im entsprechenden Einzugsgebiet haben. Apotheken ist es dann trotzdem möglich, die so angebotenen Packungen abzugeben.
Vom Einzelfall zum Dauerjoker
Wurden diese Möglichkeiten zunächst nur bei vereinzelten Engpässen genutzt, mussten BMG, BfArM und Länder diese Joker zuletzt immer häufiger ziehen. Und je nach rechtlicher Grundlage machen die zuständigen Behörden in den Ländern, denen die Aufsicht für die jeweiligen Hersteller obliegt, ganz unterschiedliche Vorgaben. Selbst den Unternehmen fällt es schwer, den Überblick zu behalten. Drei Beispiele.
Azithromycin aus Kasachstan
Um dem aktuellen Versorgungsmangel bei Antibiotika entgegenzuwirken, wollte Hexal zum 1. Juli einen Azithromycin-haltigen Saft aus Kasachstan auf den deutschen Markt bringen. Doch dann musste der Hersteller die Aktion überraschend abblasen. Dem Vernehmen nach hatte die Regierung von Oberbayern als zuständige Behörde eine deutsche Kennzeichnung gefordert; für den Konzern war dieser Aufwand aber gar nicht darstellbar.
Amoxicillin aus den USA
Erfolgreich war dagegen Puren. Der Hersteller, der von derselben Behörde beaufsichtigt wird, importiert fast 53.000 Amoxicillin-Säfte aus den USA. Das Unternehmen vermarktet hierzulande selbst gar kein entsprechendes Produkt, konnte aber auf Ware des Mutterkonzerns zurückgreifen. Dank Allgemeinverfügung hat die Ware eine eigene PZN und kann regulär über den Großhandel bestellt werden. Einen QR-Code gibt es nicht, anders als bei anderen Importen liegt aber eine deutsche Übersetzung des Beipackzettels bei. Allerdings heißt es einschränkend, dass der vorliegende Text eine wörtliche Übersetzung sei und nicht alle Informationen enthalte, die für eine sichere und effektive Versorgung erforderlich seien.
Rabattarznei aus Frankreich
Den Vogel abgeschossen hat allerdings GlaxoSmithKline (GSK) mit Ventoline: Das Pendant zu Sultanol hat keine deutsche Zulassung, keine deutsche Verpackung, keinen deutschen Beipackzettel. Und trotzdem muss der französische Notimport vorrangig als Rabattarzneimittel abgegeben werden – vor deutscher Ware wie den Generika von Hexal und Ratiopharm. Wie kann das sein.
GSK fällt ebenfalls unter die Aufsicht der Regierung Oberbayern. Doch die Behörde hat nach eigenen Angaben nichts mit der Sache zu tun: Denn die Anordnung des BfArM stütze sich auf auf die MedBVSV – sprich: die Erlaubnis, das Produkt ohne Übersetzung einzuführen, komme direkt aus Bonn und nicht aus München: Im Rahmen einer „Kritikalitätsprüfung“ sei das BfArM zu der Einschätzung gelangt, dass die Versorgung mit Fertigarzneimitteln mit dem Wirkstoff Salbutamol als Dosieraerosol nicht in ausreichendem Umfang gewährleistet sei und dass die Ware hinsichtlich Zusammensetzung und Qualität identisch sei.
Ventoline hat eine eigene PZN und wird ab 1. September als Rabattarzneimittel nachgemeldet. Heißt: Bevor auf andere Hersteller wie Ratiopharm, Hexal oder Infectopharm ausgewichen werden darf, ist der Import abzugeben. „Arzneimittel, für die ein Rabattvertrag besteht, sollen vorrangig abgegeben werden“, so eine Konzernsprecherin. Da die Vergleichbarkeit vom BfArM bestätigt sei, werde Ventoline zum 1. September auch rabattfähig sein. „Das gilt für die AOK wie auch für weitere Krankenkassen, mit denen Rabattverträge bestehen.“
Dass Ventoline nur als Einzelpackung verfügbar ist, ändert daran laut Sprecherin nichts: „Grundsätzlich ist Salbutamol in der Einer- und Mehrfachpackung von mehreren Herstellern verfügbar. Daher ist aus unserer Sicht eine Stückelung nicht notwendig.“
Auch die AOK verweist auf die Erlaubnis des BfArM, Ware mit französischer Kennzeichnung und Packungsbeilage im deutschen Markt in den Verkehr zu bringen. „Diese Entscheidung obliegt den beiden genannten Parteien, die mit Sicherheit ihre bestehenden Möglichkeiten zur Sicherstellung der Patientenversorgung ausgeschöpft haben. Rechtliche Möglichkeiten der Apotheken zum Stückeln bleiben durch die Verfügbarkeit französischer Ware unberührt.“