„Hey Online-Apotheken“: Inhaber will Kunden zum Nachdenken provozieren APOTHEKE ADHOC, 19.06.2020 10:31 Uhr
Tobias Brandl macht sich in sozialen Medien gerade viele Freunde unter seinen Kollegen: Vor seiner Palmen-Apotheke in Ottobrunn bei München schießt er mit einem mannshohen „Wachrüttelplakat“, wie er es nennt, gegen die Konkurrenz aus dem Netz. Doch die Adressaten sind nicht die Kollegen, sondern die Kunden, die er damit auf die rechtliche Ungleichbehandlung von Vor-Ort- und ausländischen Versandapotheken aufmerksam machen will. Denn die Digitalisierung sei nicht das Problem, betont Brandl, ganz im Gegenteil: Sie sei eine große Chance für die Branche. Das Problem sei eine verfehlte Gesundheitspolitik.
„Hey Online-Apotheken, wo war euer Beistand während des Lockdowns?“, liest der Kunde auf dem Plakat, bevor er die Apotheke betritt. „Wir von der Palmen-Apotheke dagegen sind für Sie da, hören Ihnen zu, beraten Sie in allen Gesundheitsfragen und liefern Ihre Arznei innerhalb weniger Stunden bis vor Ihre Haustür – auch und gerade in Krisenzeiten! Bleiben Sie gesund und unterstützen Sie uns hier vor Ort!“
Seit Dienstag ziert der Aufsteller Brandls Apotheke und, wie der Einstieg schon vermuten lässt, ist die Idee aus akutem Frust heraus geboren. Denn Brandl hat wie tausende Kollegen drei anstrengende Monate hinter sich. „Ich habe mich während der Coronakrise selbst auch samstags und sonntags in die Apotheke gestellt und Desinfektionsmittel gemischt, habe Baumwollmasken von einem Gardinenhersteller aus dem Nachbarort besorgt oder Nachfragen gestellt, falls jemand 10 Packungen Paracetamol kaufen wollte“, erzählt er. „Und was ist bei den großen Versendern? Da steht einfach auf der Homepage, dass der Artikel ausverkauft ist.“ Bewusst war ihm das die ganze Zeit, aber wie so oft brauchte es noch einen kleinen Tropfen, damit das Fass überläuft.
Eines späten Abends war Brandl auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, als ihn im Auto das Plakat einer bekannten niederländischen Versandapotheke angrinste. „Ich stehe also an der Ampel und lese in großen Buchstaben: ‚Der bequemste Weg vom Arzt in die Apotheke‘. Da habe ich mich gefragt: ‚Wo ist denn bitte euer Anteil im Moment?!‘ Das hat mich dann so aufgeregt, dass mir die Idee mit dem Aufsteller kam.“ Gedacht, getan: Brandl ließ das Plakat anfertigen und platzierte es prominent im Schaufenster, wo es seit Dienstag die Kunden begrüßt. Doch statt nur gegen die Online-Konkurrenz zu schießen, will Brandl die Kunden zum Nachdenken und bestenfalls einem Gespräch über das Thema animieren. Denn er will keineswegs missverstanden werden, wie er betont.
„Ich bin erst 28 und auch deshalb kein krasser Hardliner, der komplett gegen Digitalisierung und den Versandhandel ist. Im Gegenteil, als junger Mensch bin ich selbst modern und digital aufgestellt. Ich habe betreibe mit meiner Apotheke selbst einen Onlineshop, auch wenn ich nicht deutschlandweit, sondern lediglich im regionalen Umkreis verkaufe“, erklärt er. „Auch ich versende also und versuche meine Kunden auch auf Vorbestell-Apps einzustellen.“ Die Apotheke hat er 2018 von seinem Vater übernommen, ist also Apotheker in zweiter Generation. „Das war aber nicht das typische Familiending, dass ich seit dem Kreißsaal darauf gedrillt wurde, sondern ich habe sie aus eigenem Antrieb, zum Teil sogar gegen den Rat meines Vaters übernommen. Er hat mir damals schon gesagt, dass es in Zukunft nicht einfacher werden wird für einen Apothekeninhaber. Aber ich fand das Berufsbild des Apothekers immer sehr spannend, wollte mich um Menschen kümmern und täglich in direktem Kontakt mit ihnen sein.“
Das liege jedoch nicht nur an der Digitalisierung und sich dadurch wandelnden Geschäftsmodellen, sondern an der Art und Weise, wie die Branche reguliert werde. „Die Vor-Ort-Apotheken haben anders als ausländische Versandkonzerne hierzulande einen wichtigen gesellschaftlichen Auftrag und dementsprechend auch eine besondere, schützenswerte Position“, sagt er. Stattdessen würden die Kunden allerdings durch die aktuelle Rechtslage, insbesondere das berüchtigte EuGH-Urteil vom Oktober 2016, in die Arme ausländischer Versender getrieben. „Da gibt es eine rechtliche Schieflage, mit der es für die Vor-Ort-Apotheken ab dem E-Rezept noch sehr viel düsterer aussehen wird als bisher.“ Denn dann falle auch noch der beschwerliche Weg zum Briefkasten weg, der bisher noch notwendig ist, um das Rezept an die jeweilige Versandapotheke zu verschicken.
„Die Vor-Ort-Apotheken, die in der Krise Gas gegeben haben, sind diejenigen, die jetzt das Nachsehen haben. Deshalb war es mir ein Anliegen, meine Kunden im Schaufenster darauf hinzuweisen, wie die Rollen verteilt sind“, sagt er. „Solche gesundheitspolitischen Fragestellungen gehen aber für den Großteil der Kundschaft zu weit ins Detail, deshalb habe ich es mit dem Aufsteller etwas plakativ gemacht.“ Denn die Kunden könne man nicht über solche politischen Debatten oder eine Verweigerungshaltung erreichen – sondern müsse sie stattdessen da abholen, wo sie heute sind. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass der Kunde bequemer geworden ist. Er nimmt nicht mehr drei U-Bahnen und zwei Busse, um zu uns zu kommen, sondern wir müssen uns als Gesundheitsdienstleister auch zum Kunden wenden, zu ihm an die Haustür kommen.“
Jene Bequemlichkeit spiegelt sich jedoch nicht in einem kleineren Bewegungsradius, sondern vor allem in veränderter Mediennutzung. „Um zu bestehen, müssen wir besonders die Menschen ansprechen, die ich gern hybride Kunden nenne: Leute, die digital aufgestellt sind, also beispielsweise den Vorteil eines digitalen Bestellvorgangs nutzen, gleichzeitig aber die Vor-Ort-Versorgung samt kompetenter Beratung zu schätzen wissen. Denn das sind viele.“ Das gehe aber nur, wenn bestimmte Grundvoraussetzungen und Spielregeln gegeben sind, die mindestens eine rechtliche Gleichbehandlung von Vor-Ort- und reinen Versandapotheken herstellen. Dazu gehöre beispielsweise ein absolutes Rx-Boni-Verbot sowohl im GKV- als auch im PKV-Bereich.
Andererseits: Von allgegenwärtigen Bioprodukten bis hin zu Themen wie dem Klimawandel zeigt sich in den vergangenen Jahren auch ein verstärkter Trend zu wachsendem Verbraucherbewusstsein. Da müsste doch auch für die Vor-Ort-Apotheken eine Chance bestehen, oder? Brandl geht davon aus und sieht vor allem zwei Punkte, die eine moderne Apotheke in ihrer Kommunikation nach außen kehren müsse: „Erstens muss man den Leuten bewusst machen, dass ihre Zuzahlungen in das deutsche Gesundheitswesen fließen und sie somit ihre eigene Versorgung stärken, während sie bei ausländischen Versendern das Geld ihrem eigenen Gesundheitssystem entziehen. Dieses Geld geht nicht ins Gesundheitswesen, sondern an ausländische Investoren. Hier stehen wieder eingetragene Kaufleute gegen das Großkapital“, erklärt er. Das zweite Thema seien Umweltschutz und Convenience. „Wir fahren hier zum Beispiel mit einem Hybridfahrzeug unsere Bestellungen aus. Ich bin also mit meiner vergleichsweise kleinen vor-Ort-Apotheke sowohl schneller als auch umweltfreundlicher als ein großer Versender.“
Statt den Kopf in den Sand zu stecken und sich plakativ zu verweigern, will Brandl deshalb zu einem konstruktiv-kritischen Umgang mit den Gegebenheiten auffordern. „Ich bin überzeugt: Es gibt auf jeden Fall einen guten Mittelweg für moderne, engagierte Apotheken, die eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielen. Und dieser Weg heißt nicht ‚Internet und Digitalisierung sind furchtbar‘, sondern ‚Wir müssen mit der technischen Entwicklung mithalten und Innovationen für uns nutzen.‘“