24. Dezember

Heiliger Terror – Mein erster Weihnachtsnotdienst

, Uhr
Berlin -

Als klar war, dass ich den Notdienst an Heiligabend übernehmen musste, habe ich mir keine großen Sorgen gemacht. Irgendwann feiern die Leute doch auch Weihnachten, dachte ich. Es war mein erster Notdienst an Weihnachten als junge Inhaberin. 200 Kunden und einen Zebrafinken später muss ich über meine eigene Leichtgläubigkeit verstört lächeln. Ich hatte ja keine Ahnung.

9.00 Uhr: Dienstbeginn. Ich sitze gewissenhaft schon mit Kittel am Frühstückstisch und summe „Stern über Bethlehem“. Und ich rechne jeden Moment mit dem Läuten der Notdienstglocke. Doch der erste Kunde lässt auf sich warten, erscheint erst um 9.35 Uhr. Nasenspray. Klingt beinahe nach einem Notfall.

Egal, dafür bin ich ja hier. Beraten werden muss und möchte der schwersterkältete Patient nicht großartig, also setze ich den Kassenvorgang fort und rufe meinen Preis auf – inklusive Notdienstgebühr. Doch mehr als 4 Euro möchte der Kunde für eine freie Nase an Heiligabend offenbar nicht ausgeben und verlässt – nun ja – verschnupft die Offizin. Ich zucke die Schultern und habe nicht viel Zeit zu grübeln, weil der der nächste Patient wartet.

Der hat tatsächlich ein Rezept. Das wurde zwar schon am 19. Dezember ausgestellt, weil aber ein Antibiotikum verordnet wurde, bemühe ich die Software ausgiebig und finde schließlich eine hoffentlich retaxfreie Alternative zu seinem Rabattarzneimittel. Ach ja, Akutfall, fällt mir noch ein und ich drucke beruhigt zum ersten Mal die Sonder-PZN.

So geht es weiter, Schlag auf Schlag. Bis zum Mittag haben wir rund 150 Kunden durch. Der helle Wahnsinn. Ich summe „Maria durch ein Dornwald ging.“ Zum Glück kennt meine erfahrene Approbierte ihre Pappenheimer und hat freiwillig ihre Hilfe für den Vormittag angeboten. Wir kommen nicht einmal dazu, in Ruhe einen Kaffee zu trinken.

Ich hatte erwartet, dass noch ein paar verzweifelte Ehemänner kommen und hochwertige Kosmetik für ihre Liebste besorgen, aber das ist es nicht. Die Kunden fragen nach Cranberry-Essenz, der Pille und Schwangerschaftstests. Und wenn etwas nicht da ist, heißt es: „Das müssen Sie mir aber bringen!“ Ich summe „Stille Nacht“.

Und dann wird es absurd: Eine Kundin kommt und fragt nach Stützstrümpfen. Ich frage nicht nach Anpassung und auch sonst nicht weiter nach. Dann erlebe ich, wie meine Kollegin nebenan im Gespräch fast ungehalten wird. So kenne ich sie nicht, normalerweise ist sie die Ruhe selbst. Als die Kundin draußen ist, frage ich nach. „Das glaubst du nicht: Die wollte nur die Umschau“, stöhnt die Kollegin. Auf ihren berechtigten Notdienst-Hinweis habe die Kollegin schüchtern erklärt, über die Feiertage sei immer die Familie da. Dann sei es oft so langweilig und man brächte etwas zu lesen. Aha.

Gut 200 Kunden bis zum frühen Abend. Mittlerweile bin ich allein, mein Mann ist mit unserem Sohn gerade zum Krippenspiel aufgebrochen. Da geschieht das Unglaubliche: Kaum habe ich die elektrische Schiebetür für den nächsten Kunden geöffnet, fliegt ein Vogel durch das Sicherheitsgitter in die Offizin und setzt sich schamlos in die Sichtwahl.

Der Kunde ist – wie könnte es anders sein – Hobby-Ornithologe und klärt mich darüber auf, dass es sich um eine Zebrafinken handelt. Und zwar um ein Zebrafinkweibchen, wie an dem andauernden Gezwitscher eindeutig zu erkennen sei. Da zwischen ihm und dem Vogel aber das Gitter bleibt und er mit seinem Herpesmittel schnell versorgt war, bleibe ich allein mit dem Finken.

Ich jage den Vogel quer durch die Apotheke, aus der Offizin flieht er ins Backoffice und von da aus ins Büro. Ha! Eine Sackgasse. Zum Glück sind wir alle Ökos in der Apotheke und haben schon lange die Plastiktüten vollständig gegen Papiertüten eingetauscht. In einer davon fange ich den Finken und bringe ihn vor die Tür. Und danach kommt nur noch ein Kunde, der Monuril ohne Rezept verlangt. Das ist ja fast schon harmlos. Irgendwann sitze ich auch unter dem Weihnachtsbaum und freue mich, dass ich keinen langweiligen Beruf gelernt habe.

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