Die Apothekenpolitik von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) stärkt aus Sicht der Krankenkassen umsatzstarke Apotheken, ohne dabei kleinen Betrieben in Existenznot zu helfen. „Die Konsequenz ist ein ‚Wachstumsprogramm‘ vor allem für Apotheken in ohnehin schon überversorgten Lagen“ – zu diesem Schluss kommen zwei Experten des GKV-Spitzenverbands in einem aktuellen Beitrag zur Modernisierung der Arzneimittelversorgung. „Auf den Punkt gebracht: Es mangelt nicht an Geld, es ist nur äußerst ungleich verteilt.“ Sie plädieren deshalb für eine grundlegende Reform der Vergütung samt Einführung einer Grundfinanzierung.
Die Struktur der Rx-Vergütung aus Festzuschlag und variabler Vergütung, das Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetz (VOASG) und nicht zuletzt Initiativen wie die Abgabe kostenloser FFP2-Masken über die Apotheken führen den GKV-Experten zufolge dazu, dass der Apothekenmarkt immer weiter in Schieflage gerät. Zu diesem Urteil kommen Markus Grunenberg aus dem Stabsbereich Politik des GKV-Spitzenverband und GKV-Arzneimittelexperte Michael Bäumer. „Zusammen mit der zusätzlichen Vergütung im Zuge der Abgabe von Schutzmasken werden die bestehenden Handlungsnotwendigkeiten hinsichtlich einer Vergütungsreform verschärft, da die Ungleichgewichte zwischen den Apotheken vergrößert werden“, so Grunenberg und Bäumler.
Denn in der ersten Phase der als Steuerverschwendung kritisierten Maskenverteilaktion orientierte sich die Vergütung pauschal an der Anzahl der bisherigen Rx-Verordnungen – Apotheken mit großem Umsatz erhielten unabhängig von der tatsächlich erbrachten Leistung mehr als Apotheken mit geringem Umsatz. Doch das sei nur beispielhaft: Das Muster, große Betriebe zu stärken und kleine zu schwächen, ziehe sich durch die gesamte Apothekenpolitik der vergangen 15 Jahre – und speziell durch die Spahns.
„Auch das Apothekenstärkungsgesetz hält nur wenige Impulse für eine Modernisierung bereit und zielt faktisch vor allem darauf, den Zustand vor der europäischen Rechtsprechung zum Versandhandel aus dem Jahr 2016 wiederherzustellen“, so Grunenberg und Bäumer in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Gesundheits- und Sozialpolitik“. Die Schieflage im Markt werde durch das Gesetz aber eher verstärkt als behoben: Denn das Grundproblem sei der 2004 eingeführte Festzuschlag von 8,35 Euro pro Rx-Abgabe – er sei für Apotheken mit hohen Abgabezahlen zu hoch, für die kleinen hingegen zu niedrig. „Von dieser Vergütungslogik profitieren vor allem Apotheken mit einer hohen Kundenfrequenz.“
So sei „bemerkenswert“, dass „die apothekerliche Vergütung seit dem GKV-Modernisierungsgesetz und damit seit inzwischen 15 Jahren keine gesteuerte und koordinierte Entwicklung genommen hat.“ Die Folgen ließen sich seit Jahren an den von der Abda veröffentlichten Apothekenzahlen ablesen: Der Anteil von Apotheken in niedrigen Umsatzklassen gehe kontinuierlich zurück, während der Anteil in höheren Umsatzklassen steige. „Daraus folgt eine deutlich ungleiche Verteilung der Umsatzanteile innerhalb der Apothekerschaft.“
Besonders verschärft werde diese Tendenz durch die Kombination aus hoch regulierter Vergütung bei gleichzeitiger Niederlassungsfreiheit. Denn die schaffe den Anreiz, „die Entscheidung der Standortwahl vor allem nach der erzielbaren Absatzmenge zu treffen. So erklärt sich die insbesondere in Ballungszentren zu verzeichnende hohe Konzentration von Apotheken und eine demgegenüber vergleichsweise geringere Apothekendichte in eher ländlichen Lagen.“ Das wiederum führe zu einer doppelten Schieflage: einerseits zu Überversorgung in Ballungsräumen bei gleichzeitiger Unterversorgung in ländlichen Gebieten, andererseits aber auch zu einer prekären wirtschaftlichen Lage vieler Apotheken Ballungsräumen, die dort einem „ungesteuerten Mengenwettbewerb“ und intensiver Konkurrenz ausgesetzt seien. „Notwendig bleibt eine Vergütungsreform, die die flächendeckende Versorgung stärkt und den starken Anreiz zur Konzentration auf städtische Lagen abmildert“, so Grunenberg und Bäumer.
Eigentlich hätte das VOASG da Abhilfe schaffen sollen. Habe es aber nicht – und zwar nicht zuletzt wegen der „Phantomdiskussion“ über ein mögliches Rx-Versandverbot seit dem berüchtigten Rx-Boni-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Oktober 2016. Es stehe fest, dass die in der Debatte „immer wieder angeführten Bedrohungsszenarien für die inländische Arzneimittelversorgung durch das kleine Marktsegment der Versandapotheken dazu geführt haben, dass der Fokus der gesundheitspolitischen Beratungen nicht auf dem Weiterentwicklungsbedarf und -potenzial des Apothekenmarktes lag“, so Grunenberg und Bäumer. Den zentralen Problemstellungen des Apothekenmarktes sei deshalb nur nachrangige Bedeutung zugekommen.
Ergebnis: Die diesbezüglichen Regelungen des VOASG seien unausgegoren und würden die Probleme eher noch weiter verschärfen. So werde zwar mit der Einführung pharmazeutischer Dienstleistungen „richtigerweise anerkannt, dass Pharmazeutinnen und Pharmazeuten in der Patientenversorgung größere Kompetenzen übertragen werden können“. Doch auch hier gelte, dass vor allem Patienten mit ohnehin hoher Kundenfrequenz und der Möglichkeit, Dienstleistungsangebote zu skalieren, von der neuen Vergütung profitieren. Gleiches Schema bei der Vergütung des Botendienstes: „Es ist wahrscheinlich, dass hiervon vor allem wieder Apotheken in zentralen Lagen mit hoher Kundenfrequenz profitieren werden, bei denen leichter eine kritische Masse an Belieferungen zur Einrichtung eines regelmäßigen Botendienstes erreicht wird.“
Ähnlich sieht es bei den Abgabeautomaten aus: Zwar sei es grundsätzlich sinnvoll, bei der Abgabe über Automaten eine telefonische Beratung vorauszusetzen. Allerdings sei die in der Apothekenbetriebsordnung vorgeschriebene räumliche Bindung an die Apotheken kontraproduktiv. Denn insbesondere in Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte wäre der flexiblere Betrieb von Abgabeautomaten „gerade in Verbindung mit einer den Bedürfnissen der Patientinnen oder Patienten entsprechenden videogestützten oder auch telefonischen Beratung eine zeitgemäße Möglichkeit zur Sicherung der flächendeckenden Arzneimittelversorgung“, so Grunenberg und Bäumer. „Stattdessen perpetuiert die Regelung die bisherigen starren Strukturen.“
Was ist also zu tun? Grunenberg und Bäumer bringen dazu konkrete Vorschläge für eine grundlegende Reform der Vergütung ein: Sie solle in zwei zentrale Komponenten aufgeteilt werden, nämlich einerseits eine packungsbezogene Vergütung, die „leistungsgerecht abzusenken“ sei, um gerade für hochfrequentierte Apotheken eine adäquate Vergütung zu gewährleisten. Andererseits fordern die beiden eine Grundfinanzierung unabhängig von der Packungsabgabe, die durch die Einsparungen aus dem abgesenkten Festzuschlag finanziert wird. Bei ihr müsse sichergestellt werden, dass sie vor allem flächenversorgenden Apotheken zugutekommt.
Der Weg dahin führe über die Kammern: Ähnlich zur Organisation des Notdienstes sollen sie eine Unterteilung des Bundesgebietes in „flächenbezogene Versorgungsbereiche“ vornehmen. Für jeden Versorgungsbereich sollen dann wiederum Grundpauschalen zur Verfügung gestellt werden, die auf die jeweiligen Apotheken verteilt werden. „In Regionen mit einer niedrigen Apothekendichte erhält eine einzelne Apotheke entsprechend einen hohen Anteil, während dieser in Regionen mit hoher Apothekendichte deutlich niedriger ist“, so Grunnenberg und Bäumer. „Diese Systematik setzt Anreize für eine versorgungsbezogene Niederlassung von Apotheken.“ Viel Zeit bleibt den beiden zufolge jedenfalls nicht, denn die Einführung des E-Rezepts stehe unmittelbar bevor – und das habe tatsächlich das Potential, zum viel beschworenen Game-Changer zu werden. „Daraus erwachsen wiederum neue gesetzgeberische Handlungsbedarfe“, so der Beitrag. „Umso drängender wird es, die Herausforderungen im Zusammenhang mit den Schieflagen bei der Apothekenvergütung sowie bei der notwendigen Flexibilisierung der Apothekenstrukturen zeitnah in der kommenden Legislaturperiode anzugehen.“
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