Kein Rezept, kein Geld, keine Rechtsgrundlage: Im Mai vergangenen Jahres entschied das Bundessozialgericht (BSG), dass Ärzte bei der Verordnung von Gerinnungsfaktoren aus Wirtschaftlichkeitsgründen die Apotheken umgehen müssen. In der Praxis führt das höchstrichterliche Urteil seitdem zu erheblichen Komplikationen: Immer wenn der Wohnort des Patienten und der Standort der Praxis weit auseinanderliegen, müssen Umwege gesucht werden, um das Arzneimittel zum Patienten zu bringen. Die Apotheken werden dabei zu Ausgabestellen im rechtlichen Graubereich.
In einem konkreten Fall erkundigte sich ein Bluterpatient in der St. Viktor Apotheke in Schwerte im Ruhrgebiet, ob er dort das Gerinnungsmittel Feiba (Faktor VIII) des Herstellers Baxalta beziehen könne. Apothekerin Heike Nickolay bat um eine Woche Vorlauf. Dann sei alles kein Problem.
Nach dem Arztbesuch meldete sich der Patient erneut telefonisch, erklärte jedoch, dass er nicht im Besitz des erforderlichen Rezeptes sei, weil seine Frankfurter Arztpraxis die Verordnung direkt an den Hersteller Baxalta weitergereicht habe. Die Apotheke sollte nur als Auslieferstelle aushelfen. Nickolay verweigerte dies mit Hinweis auf das Arzneimittelgesetz (AMG): Danach könne eine Abgabe nur beim Vorliegen des Originalrezeptes erfolgen.
Seit Jahren lässt sich der Bluterpatient aber im HZRM Hämophilie-Zentrum Rhein Main in Mörfelden-Walldorf bei Frankfurt behandeln. Erst kürzlich war er in das 230 Kilometer entfernte Schwerte gezogen. Für das Abholen des Arzneimittels will der Patient nicht noch einmal den Weg zurücklegen.
Auf Anfrage bestätigte Baxalta, dass solche und ähnliche Szenarien gelegentlich vorkämen. In solchen Fällen gebe es Probleme mit der Auslieferung des von der Arztpraxis direkt bestellten Arzneimittels. Einige Apotheken gäben Feiba dann ohne Rezept an ihnen bekannte Patienten ab, so eine Sprecherin. Dann werde eine Kopie des Originalrezepts übermittelt. Andere Apotheker verweigerten die Abgabe ohne vorliegendes Rezept. Dabei spielten neben rechtlichen Gründen auch wirtschaftliche Aspekte eine Rolle. „An einer Abgabe ohne Rezept verdienen Apotheker nichts“, so die Sprecherin.
Im konkreten Fall suchten und fanden Baxalta und der Patient in Schwerte eine Arztpraxis, über die Feiba schließlich abgegeben wurde. In Paragraf 47 AMG heißt es nämlich zu diesem Vertriebsweg: „Pharmazeutische Unternehmer und Großhändler dürfen Arzneimittel, deren Abgabe den Apotheken vorbehalten ist, außer an Apotheken nur abgeben an andere pharmazeutische Unternehmer und Großhändler, Krankenhäuser und Ärzte, soweit es sich handelt um aus menschlichem Blut gewonnene Blutzubereitungen oder gentechnologisch hergestellte Blutbestandteile, die, soweit es sich um Gerinnungsfaktorenzubereitungen handelt, von dem hämostaseologisch qualifizierten Arzt im Rahmen der ärztlich kontrollierten Selbstbehandlung von Blutern an seine Patienten abgegeben werden dürfen.“
Damit dürften nach der Logik des BSG-Urteils eigentlich nur die behandelnden Ärzte das Medikament abgeben, denn selbst mit Zusatzqualifikation wären Kollegen von der Ausnahmeregelung nicht erfasst.
Ausgelöst wurde das Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts durch eine Ärztin aus Sachsen-Anhalt. Sie musste einen Regress in Höhe von 16.000 Euro hinnehmen, weil sie einen Bluterpatienten mit den Rezepten in die Apotheke geschickt hatte. Aus Sicht der Kasse hätte sie die Medikamente günstiger direkt beim Hersteller bestellen müssen. Gestritten wurde über Verordnungen von Gerinnungsfaktoren zwischen April 2006 und März 2007.
Das Sozialgericht Magdeburg wies die Klage der Ärztin im Frühjahr 2012 zunächst ab. Vor dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) bekam Anfang 2014 die Medizinerin recht. Doch in letzter Instanz erklärte das BSG den Regress für rechtmäßig. Die Ärztin habe „gegen das sie unmittelbar verpflichtende Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen“, so das BSG.
Der Begriff „Wirtschaftlichkeit“ fordere im engeren Sinne entsprechend dem Minimalprinzip, mit dem geringstmöglichen Aufwand die erforderliche Leistung zu erbringen, hieß es in der Urteilsbegründung. „Die für die Behandlung von Blutern regelmäßig aufzuwendenden Arzneimittelkosten sind erheblich, sodass sich bei einem Direktbezug – also ohne den an die Apotheken fließenden 'Aufschlag' – ein entsprechendes Einsparpotenzial ergibt.“
Das Minimalprinzip ist laut BSG schon bei zwei therapeutisch gleichwertigen Arzneimitteln mit unterschiedlichem Preis zu beachten. Es wäre daher schwer nachvollziehbar, wenn der Arzt dies bei der Auswahl des Arzneimittels – und vergleichsweise geringen Einsparungen – beachten müsse, nicht aber beim Bezugsweg mit Preisunterschieden von rund 4000 Euro pro Quartal.
Regresse haben Ärzte normalerweise nicht im Einzelfall zu erdulden, sondern im Rahmen ihrer Richtgrößenprüfung. Gerinnungsfaktoren sind jedoch von der Richtgrößenprüfung explizit ausgenommen, womit aus Sicht des BSG der Weg zum Einzelregress frei war. Und im Einzelfall könne ein Arzt auch ohne Konkretisierung verpflichtet sein, sich für die wirtschaftlichere Variante zu entscheiden. Seit 1998 dürfen Hersteller laut AMG ihre Gerinnungsfaktoren auch direkt an „hämostaseologisch qualifizierte Ärzte“ abgeben.
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