„Für medizinisches Cannabis würde ich mich prügeln“ Patrick Hollstein, 09.09.2022 10:26 Uhr
Melanie Dolfen hat sich mit ihrer BezirksApotheke auf die Versorgung mit medizinischem Cannabis spezialisiert. Genau genommen hat sie so ihren Standort am Alexanderplatz in wirtschaftlich schwierigen Zeiten gerettet. Aber auch unter fachlichen Gesichtspunkten sei diese hochindividualisierte Therapie mit das Spannendste an ihrer Arbeit als Apothekerin, wie sie sagt. Von Cannabis zu Genusszwecken hält sie dagegen nichts.
„Für medizinisches Cannabis würde ich mich prügeln“, sagte Dolfen bei der Zukunftskonferenz VISION.A powered by APOTHEKE ADHOC. Die Therapie sei so individualisiert, dass dies auch ausstrahlen sollte auf andere Gebiete in der Apotheke. „Meine Leidenschaft kommt aus der intensiven Zusammenarbeit mit den Ärzten und den Patientinnen und Patienten. Das ist für mich echte pharmazeutische Arbeit.“
Dabei sei der Weg durchaus steinig gewesen. Dolfen schilderte, wie sie zur „Cannabis-Apothekerin“ wurde: Am Anfang sei sie von einer Patientin angesprochen worden, dann habe sie sich eingelesen und entschieden, Cannabis als Option für austherapierte Patient:innen in ihrer Apotheke eine Chance zu geben. „Damals gab es in ganz Deutschland vielleicht zehn Apotheken, an die sich die Betroffenen wenden konnten.“
Cannabis rettet Apotheke
Über die Zeit sei ihre Apotheke zur Anlaufstelle geworden – sie habe nicht nur mehrere Tresore angeschafft, um Lieferengpässe zu überbrücken, sondern den Betroffenen auch geholfen, Praxen zu finden. „Viele Ärzte wollten diskret bleiben bei Cannabis.“ Dies habe den Standort am Roten Rathaus im Grunde auch gerettet. „Die Apotheke hat sich nicht getragen. Mit Cannabis ist das anders geworden: Zu uns kommen viele Patienten, die Hilfe suchen. Und wir sind auch attraktiv für pharmazeutisch interessierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“
2017 habe die Versorgung vor dem Aus gestanden: Um die Therapie zu erleichtern, habe die Regierung das eigentlich einfache Verfahren mittels Ausnahmegenehmigung durch die Bundesopiumstelle abgeschafft und Cannabis als ausnahmsweise verordnungsfähiges Betäubungsmittel eingestuft. Bewirkt wurde damit aber genau das Gegenteil: „Plötzlich saßen die Krankenkassen mit am Tisch.“ Diese seien erfahrungsgemäß misstrauisch und wollten vor allem das Geld zusammenhalten. „Das hat selbst wohlwollende Ärzte verprellt.“
Über Nacht seien so 100 Patient:innen weg gewesen, so Dolfen. Doch auch nach diesem „BtM-Moment“, wie sie es nennt, hielt sie durch, und mit der Zeit sei auch eine neue Klientel hinzugekommen. Dennoch: Aus ihrer Sicht sollten alleine Patient und Arzt über die Therapie entscheiden, nicht die Kassen. „Viele unserer Cannabis-Patient:innen zahlen die Therapie selbst. Der Kassenvorbehalt muss dringend fallen.“
Retax: Kein Aprilscherz
Mitten in die Corona-Pandemie fiel dann der nächste Schock: Rückwirkend zum 1. März 2020 wurde beschlossen, dass anstelle der bisherigen Aufschläge nur noch nach Anlage 10 Hilfstaxe abgerechnet werden kann. „Ich dachte erst, das ist ein Aprilscherz.“ Teilweise habe sie Retaxationen erhalten, nach denen noch nicht einmal mehr der Einkaufspreis gedeckt wurde.
Der Staffelpreis mache Cannabis noch unattraktiver – gerade für kleinere Apotheken. Dabei seien die Betroffenen auf sie angewiesen. „In Städten wie Berlin gibt es vielleicht genügend spezialisierte Apotheken, aber auf dem Land haben Sie als Patient immer noch Probleme, eine Anlaufstelle zu finden.“ Die Apothekerschaft sei nach wie vor gespalten. Viele Kolleg:innen wollten kein Cannabis in ihren „Picobello-Apotheken“, klagt Dolfen. „Wir verkaufen doch viel hochpotentere Sachen.“
Sie findet es ein Unding, dass immer noch Angehörige dafür kämpfen müssen, „dass Oma ihr Cannabis bekommt“. Apotheken müssten sich viel stärker engagieren, denn aus der Not heraus würden viele Betroffene selbst zu Aktivisten – etwa der ADHS-Patient, der sich Cannabis zuvor am Schwarzmarkt besorgen musste. „Solche Geschichten kennen alle Apotheken, die sich für Cannabis entschieden haben.“
Kanadier wollten Apotheken kaufen
Von der Freigabe von Cannabis zu Genusszwecken hält sie nichts: „Ich bete für eine strenge Legalisierung mit Altergrenzen und Qualitätskriterien. Gerade für junge Menschen kann Cannabis echtes Teufelszeug sein.“ Schon heute könne man sehen, wie Glücksritter ihre Chance witterten: So hätten Firmen aus Kanada sich bereits erkundigt, ob sie nicht Apotheken aufkaufen könnten – um diese dann in Cannabis-Shops umzuwandeln.
Für die Versorgung der Patient:innen könnte die Liberalisierung negative Folgen haben: „Viele Patient:innen könnte sich dann am Freizeitmarkt orientieren.“ Dabei seien dies komplett unterschiedliche Welten. Das fange schon bei der Herstellung und Qualitätssicherung an. „Medizinal- und Genusscannabis haben nur das C gemeinsam. Wir müssen aufpassen, dass die Cannabistherapie nicht im Schwung der Legalisierung ‚verdampft‘.“