Formfehler bei Lauterbach-Rezept: Apotheke droht Retax Patrick Hollstein, 12.08.2023 08:03 Uhr
Du liebe Güte, das durfte doch nicht wahr sein. Bei der Rezeptkontrolle fiel einer Mitarbeiterin der Grünen Apotheke in Berlin Charlottenburg auf, dass das E-Rezept, das gerade in Anwesenheit von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) presseöffentlich eingelöst worden war, gespickt war mit Formfehlern. Was nun?
Politisch ist gerade nicht viel los in Berlin, daran ändert auch das Aprilwetter seit Beginn der Schulferien nichts. Also gab Lauterbach gegenüber seinem Pressestab die Devise aus, die Sommerpause zu nutzen und jede Woche für ein neues Thema zu trommeln. Engpässe lieber erst einmal nicht, aber sowas wie E-Rezept oder Cannabis würde sich doch eignen. Gesagt, getan: „+++ Bundesgesundheitsminister stellt Neuerungen zum E-Rezept sowie Digitalgesetze vor +++“, ging die Ankündigung über den Ticker.
Also bauten sich am Donnerstagvormittag die Reporterteams vor der Apotheke in der Wilmersdorfer Straße auf. Mit in die Praxis und in die Apotheke durften nur ein Kameramann und zwei Fotografen, der Rest musste draußen auf Lauterbachs Statement warten. Doch es gibt ein Gedächtnisprotokoll der zuständigen QMS-Beauftragten der Apotheke, das genau beschreibt, wie das kurze Gespräch mit dem Inhaber ablief.
„Guten Tag Herr Lauterbach, herzlich willkommen in unserer Apotheke.“
„Wir haben hier ein E-Rezept. Es ist ehrlich gesagt überhaupt nicht mehr vertretbar, dass wir in der heutigen Zeit noch immer die Rezepte über Papier ausdrucken.“
„Selbstverständlich. Einen Moment, ich suche alles für Sie heraus.“
„Bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems ist Deutschland ein Entwicklungsland. Das ist leider so, wir brauchen eine Aufholjagd.“
„Natürlich.“
„Ich erwarte einfach von der Apothekerschaft, aber auch von der Ärzteschaft, dass man diese wichtige Innovation, die die Medikamente sicherer macht, die den Patienten hilft, die die Arbeitsabläufe vereinfacht, dass man die nicht blockiert, sondern mitzieht.“
„Kleinen Moment noch.“
„Das ist eine Art der Modernisierung, die die Ärzte- und auch die Apothekerschaft schuldet.“
„Hmja.“
„Die Apotheker ziehen im Großen und Ganzen sehr gut mit, dafür bin ich sehr dankbar.“
[Schweigen]
„Sollte es mit einzelnen IT-Herstellern Probleme geben, dann werden wir auch diese Hersteller einbestellen.“
„Nein nein, es passt schon alles. Ihr Medikament müsste jeden Moment aus dem Automaten kommen.“
„Es darf auch nicht sein, dass der Datenschutz verhindert, dass es überhaupt E-Rezepte gibt.“
„Und da ist auch schon Ihr Medikament. Sie kennen die Einnahme?“
„Weitere Verzögerungen können wir uns nicht leisten.“
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
„Wir wollen die Gematik modernisieren, dazu wird es ein eigenes Gesetz geben.“
„Auf Wiedersehen.“
Was aus dem Wortlaut nicht hervorgeht: Die Belieferung des Rezepts lief alles andere als reibungslos, wie die verantwortliche Approbierte aber erst bei der Rezeptkontrolle bemerkte. Mit dem Aut-idem-Kreuz fing es schonmal an: Warum hatte der Arzt das überhaupt gesetzt? Und warum hatte der Chef es durchgestrichen und gut leserlich daneben unterschrieben? Und dann hatte er auch noch die Darreichungsform ausgetauscht und ein N-i-c-h-t-r-a-b-a-t-t-a-r-z-n-e-i-m-i-t-t-e-l abgegeben. Wo war der begründende Vermerk mit Datum, Unterschrift und Angabe der Uhrzeit? Wo waren die Verfügbarkeitsanfragen? War es überhaupt ein akuter Fall?
Genau dieser (ein bisschen ausgedachte) Schreckmoment beschreibt die Situation, in der die Apothekenteams gerade stecken. Während Lauterbach vor die Presse tritt, um das E-Rezept zu feiern und die Heilberufe ohne Veranlassung an den Pranger zu stellen, werden diese täglich mit neuen Herausforderungen und Sperenzien konfrontiert:
- Austausch von Saft gegen Zäpfchen oder Fertigspritze statt Injektionslösung ist auf Grundlage des Lieferengpassgesetzes nicht mehr gestattet. Gleiches gilt für den Aut-simile-Austausch.
- Der Sultanol-Ausweichartikel Ventoline aus Frankreich muss als Rabattarzneimittel abgegeben werden, allerdings nur die kleine Packung, denn eine große gibt es nicht. Deutschen Beipackzettel ausdrucken nicht vergessen!
- Die Kassen haben eine schnelle Lösung für die Engpassprämie abgelehnt, sodass Apotheken die Rezepte am besten erst einmal liegen lassen.
- CGM will einen größeren Teil der TI-Pauschale einstecken und stellt dafür nicht näher definierte Zusatzleistungen in Aussicht. Wer nicht widerspricht, wird umgestellt. Aber Achtung! Lieber erstmal keine Rezepte mehr direkt abrechnen. Risiko: Doppelbuchung. Kasse, Staatsanwalt und so.
- Die Apotheken sollen Kundinnen und Kunden aufschreiben lassen, warum sie sie im Herzen tragen. Leider kommt die Aktion bei den Teams nicht so gut an, auch weil die Karten gar nicht an „die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland“ abgeschickt, sondern zur stichprobenartigen Sichtung eingesammelt werden sollen. Vielleicht wusste man auch nur die Adresse nicht...
- Der Großhändler AHD hat nichts Besseres zu tun, als Testkunden in Apotheken zu schicken. 1100 Mal soll die pDL Blutdruckmessen überprüft worden sein, theoretisch also durch 1100 unterschiedliche Anspruchsberechtigte. Kam auch so mittel an.
Kein Wunder also, dass so manche Apotheke beim Verkauf nur noch einen symbolischen Betrag bringt. Andererseits nehmen 30 Prozent auch 600.000 Euro und mehr für die erste eigene Apotheke in die Hand, jede oder jeder Achte sogar eine Million Euro und mehr, wie eine Analyse der Apobank gezeigt hat. Überraschend eingebrochen ist der Frauenanteil.
Die Ärzte haben ähnliche Probleme, und weil sie auch die 10 Prozent mehr Geld bislang nicht bekommen, planen sie für Oktober einen Protesttag. Das BMG reagiert in bewährter Manier mit einem Faktenblatt. Vielleicht wäre es doch bald Zeit für einen gemeinsamen Aufstand? Mal drüber nachdenken. Schönes Wochenende. Und endlich schönes Wetter.