Apotheker-Bande in Berlin

Filialleiter verurteilt: Der Feind im eigenen Haus

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Berlin -

Mehr als zweieinhalb Jahre ist es her, dass Apotheker Klaus H. und seine Komplizen wegen eines groß aufgezogenen Rezeptfälscherrings zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Doch der Fall beschäftigt die Ermittlungsbehörden nach wie vor: Eine ganze Reihe Apotheken in der Hauptstadt sollen eingeweiht gewesen sein und sich beteiligt haben. Das Amtsgericht Tiergarten hat am Freitag einen weiteren Fall aus dem Komplex abgeschlossen: Ein 58-Jähriger ehemaliger Filialleiter wurde verurteilt, weil er gefälschte Rezepte belieferte und sich dafür mit Bargeld schmieren ließ. Dabei ist das Gericht seiner tatsächlichen Rolle im Rezeptfälscherring gar nicht bis zum Schluss nachgegangen.

Dirk B. wirkt, als könnte er kein Wässerchen trüben: ein gemütlicher Mittfünfziger mit Brille und Halbglatze, der mit Frau und zwei Kindern voll im Leben steht. Allzu oft sieht er die drei aber nicht, denn er arbeitet wie ein Tier: Auf bis zu 70 Stunden die Woche komme er, weil er als Vertretungsapotheker im gesamten Bundesgebiet unterwegs ist, erklärt er am Freitag vor Gericht: „Diese Arbeit mache ich, weil ich damit am meisten Geld verdienen kann, um die Probleme zu lösen, die ich mir unnötigerweise selbst aufgehalst habe.“ An die 10.000 Euro brutto mache er im Monat, habe aber als Selbstständiger auch entsprechende Abzüge.

Von dem Geld blieben im Schnitt weniger als 2000 Euro im Monat hängen, denn B. muss nicht nur Steuern und Krankenversicherung zahlen, sondern vor allem regelmäßig an seinen ehemaligen Chef – und ehemaligen Freund – Andreas W. abdrücken. Die beiden haben einen Deal: 36.000 Euro soll B. ihm innerhalb von drei Jahren zurückzahlen. Schafft er das nicht, hat er zwar mehr Zeit, muss dafür aber 50.000 Euro abarbeiten. Und das ist nur ein Bruchteil der Summe, die B. noch wird begleichen müssen für den Verrat, den er an seinem Freund begangen hat. Der hatte ihm nämlich geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. „Wir haben ihm einen Neustart ermöglicht“, sagt er.

Die beiden Pharmazeuten kennen sich schon seit vielen Jahren. Wie viele genau es sind, kann W. im Zeugenstand nicht einmal sagen – nur, dass seine Frau, die selbst PTA ist und in seinen Apotheken arbeitet, B. einst auf einer Fortbildung kennenlernte und sich daraus eine private Freundschaft entwickelte. Damals hatte B. noch eine eigene Apotheke in der Köpenicker Altstadt. „Aber die hat nicht den entsprechenden Gewinn abgeworfen, also hat er immer mehr Schulden gemacht“, erzählt W. vor Gericht. „Außerdem soll er vom Vermieter über den Tisch gezogen worden sein.“ Die Apotheke musste schließen, B. ging in die Privatinsolvenz und verschwand vorerst von der Bildfläche.

Jahre später, B. war frisch aus England zurückgekehrt und hatte gerade seine Privatinsolvenz hinter sich gelassen, sollte die Freundschaft zum beiderseitigen Vorteil gereichen. Denn W. erhielt das Angebot, eine Apotheke in Alt-Mariendorf zu übernehmen. „Meine Frau und ich dachten, dass sich das sehr gut fügt, weil er gerade aus England zurückgekehrt war“, erzählt W. „Ich hätte die Apotheke jedenfalls nicht gekauft, wenn ich nicht jemand vermeintlich Vertrauenswürdiges als Filialleiter zur Hand gehabt hätte.“ Und da sein Freund das Geld gut brauchen konnte, zeigte W. sich großzügig: Wie viel er ihm denn gezahlt habe, wollte der Richter wissen. „Das waren so round about 6500 Euro netto“, antwortet er. „Also gut 30 Prozent über Tarif, aber auch nicht exorbitant viel.“

Dabei habe es schon damals Anzeichen gegeben, dass er seinem Freund nicht allzu blind trauen sollte. Ein Anwalt, der W. einst anderweitigvertreten hatte, erzählte ihm nämlich von einem Verfahren, dass Gehe gegen B. angestrengt habe, weil der den Großhändler um tausende Euro geprellt habe. „Der Anwalt hatte mich auch damals schon gewarnt, dass er damals nicht so gutgläubig über den Tisch gezogen wurde, sondern schon ziemlich arglistig sein soll“, sagt W. aus. „Aber meine Frau und ich wollten das nicht so recht glauben.“

Das Vertrauen in den alten Freund schien vorerst auch berechtigt, die Apotheke warf die ersten Jahre nicht viel ab, lief aber mit rund drei Millionen Euro Umsatz ganz ordentlich. Selbst als die DAK die erste große Retaxation schickte, sei er noch misstrauisch geworden, so der Inhaber: Rund 30.000 Euro zog ihm die Kasse ab. Im Nachhinein – also in den Gerichtsakten – ist das als Regress wegen gefälschter Verordnungen vermerkt. Wie er denn da keinen Verdacht schöpfen konnte, will der Staatsanwalt wissen. „Da stand ja nichts von gefälschten Rezepten, sondern von Beanstandungen. Das kommt bei den Kassen regelmäßig vor und es handelte sich um hochpreisige Arzneimittel, von daher war das gar nicht so unrealistisch“, erklärt W. Erst bei einer zweiten großen Retaxation sei er misstrauisch geworden. „Wir konnten uns aber einfach nicht vorstellen, dass jemand, den wir seit Jahren kannten und dem wir vertrauten, solche Handlungen begeht. Außerdem hat ja interessanterweise auch sonst niemand in der Apotheke irgendetwas bemerkt.“

Nicht beiseiteschieben ließ sich der Verdacht dann im Sommer 2017. W. war gerade in England, als ihn die Nachricht erreichte, dass die Polizei seine Apotheke durchsuchte. „Da war die Aufregung natürlich groß“, so der 57-Jährige. Kurz zuvor waren in einem Berliner Hotel Klaus H. und seine Lebensgefährtin Galya S. verhaftet worden. Der Apotheker und seine Lebensgefährtin hatten gemeinsam mit mindestens vier weiteren Komplizen einen Rezeptfälscherring aufgezogen, mit dem sie die GKV zwischen 2013 und 2017 um rund 2,5 Millionen Euro betrogen hatten.

Klaus H. ging es recht ähnlich wie B.: Er hatte 2010 seine Apotheke verkaufen müssen und war wirtschaftlich in Schieflage geraten, als er mit einem Bekannten auf die Idee kam, mit gefälschten Rezepten Arzneimittel in verschiedenen Apotheken zu besorgen und sie dann über andere Apotheker mit Großhandelslizenz gewinnbringend wieder zu veräußern. Die gefälschten Rezepte besorgte Edin S., ein weiterer Komplize. Er wiederum belastete B. im Prozess, der im Frühjahr am Landgericht Tiergarten stattfand: Er nannte mehrere Apotheken in Berlin, die in die Betrugsmasche eingeweiht gewesen seien und einen Anteil an der Beute erhielten. Außerdem habe er konkret von einem Apotheker aus Alt-Mariendorf Daten für die Rezepte erhalten. Da er das Recht hat, die Aussage zu verweigern, wenn er sich damit selbst belasten würde, äußerte sich B. am Freitag nicht zu dem Vorwurf – und das Gericht ging ihm aus nicht näher genannten Gründen auch nicht weiter nach.

Bei jener denkwürdigen Gerichtsverhandlung saß W. im Publikum – und konfrontierte B. daraufhin mit den Vorwürfen. Nach der Razzia hatte er sich noch rausreden können. „Ich hatte die fristlose Kündigung schon dabei, aber er redete sich zwei Stunden lang heraus und sagte, es sei doch klar, dass die ihn belasten wollen“, erinnert sich W. „Meine Frau sagte dann, im Zweifel für ihn.“ Doch spätestens nach dem Gerichtsprozess, als er die Vorwürfe noch einmal mit eigenen Ohren hörte, war das Fass voll. Er beantragte Akteneinsicht und wollte seinen ehemaligen Freund entlassen – doch der wehrte sich dagegen. Der Fall ging vors Arbeitsgericht, doch da stand W. ohne Belege für seine Entlassungsgründe da, denn das Landgericht hatte ihm die Akteneinsicht verwehrt. Erst konnte er nicht an den Verdacht gegen seinen Freund glauben und als er es endlich einsah, glaubte ihm das Arbeitsgericht nicht. Es kam zu einem Vergleich, W. musste einige Monate Kündigungsfrist gewähren und ein volles Monatsgehalt Abfindung zahlen.

Zum Jahresende 2018 trennten sich ihre Wege und es sollte gut zwei Jahre dauern, bis W. zumindest formal Gerechtigkeit erfuhr. Da hatte er sich allerdings schon mit seinem ehemaligen Filialleiter engagiert und den Rückzahlungsdeal mit ihm geschlossen, denn nach dessen Angaben hat B. seinem Betrieb mit der Bedienung der gefälschten Rezepte um die 80.000 Euro Schaden zugefügt. Es wird deshalb nicht die letzte Vereinbarung sein, wie B. vor Gericht erklärt: Bisher seien nur die Retaxationen von DAK, TK und Barmer abgedeckt. „Mit der AOK werde ich bald eine Rückzahlungsvereinbarung unterschreiben und an die anderen Kassen werde ich mich bald wenden, um das zu klären“, so B. zum Richter. Denn B. leugnet seine Taten gar nicht – im Gegenteil, er sei von Anfang an, auch gegenüber der Polizei, vollumfassend geständig gewesen, hält ihm selbst die Staatsanwaltschaft zugute. Und auch vor Gericht erzählt er ausgiebig: Klaus H. habe er schon seit längerem gekannt und „gewusst, dass der immer versucht, hier und da Geschäfte zu machen“, als dieser Anfang 2015 bei ihm in der Apotheke stand und ein Rezept dabeihatte. Das sei von einem Kumpel und er selbst habe ja keine Apotheke mehr. Ob er es bei B. einlösen könne. Gesagt, getan. Kurz darauf stand H. erneut auf der Matte. „Das passierte dann nochmal und nochmal, bis ich ihn gefragt habe, was das soll“, erzählt B. „Da hat er mir Geld geboten und ich habe dummerweise mitgemacht.“

Mindestens 18-mal schlug H. dann zwischen Februar 2015 und November 2016 in seiner Apotheke auf, jedes Mal hatte er mindestens ein gefälschtes Hochpreiser-Rezept dabei – und immer wieder mal einen Umschlag voll Geld. „Da waren mal 500, mal 1000, einmal auch 2000 Euro drin, insgesamt vielleicht drei- bis viermal, es können aber auch sechsmal gewesen sein“, sagt er und gibt an, selbst nicht genau zu wissen, wie viel Geld er von H. erhalten habe. „Wenn ich es mal grob überschlage, würde ich vielleicht 10.000 Euro sagen. Ich habe da aber nicht Buch geführt.“ Was H. mit den erschlichenen Arzneimitteln genau mache, habe er auch nicht gewusst. „Ihnen war aber schon klar, dass das nicht gemacht wurde, um den Armen zu helfen?“, hakt der Richter nach. Natürlich sei ihm bewusst gewesen, dass H. die Arzneimittel wahrscheinlich über Mittelsmänner weiterverscherbelt. „Das war eine dumme Geschichte“, sagt er kleinlaut. „Das war nicht nur dumm, sondern auch strafbar“, belehrt ihn der Richter.

Immerhin – auch das wird B. noch zugutekommen – endete seine Beteiligung am Rezeptbetrug nicht erst mit H.s Verhaftung. Bereits Ende 2016 wurde es ihm zu heiß, als er erste Medienberichte gelesen habe, wonach eine Häufung hochpreisiger Rezeptfälschungen in Berlin aufgefallen sei. Daraufhin habe er H. erklärt, dass er aussteigen wolle – und der habe das nach kurzer Diskussion auch akzeptiert. „Gab es da keine Repressalien oder Drohungen?“, fragt der Richter. „Nein, zum Glück nicht. Ich hatte auch ein bisschen Angst.“

Und die war gar nicht so unberechtigt, wie die kurz darauf eskalierenden Ereignisse im Rezeptfälscherring zeigen sollten: Denn Klaus H. und seine Lebensgefährtin Galya S. hatten sich nicht lange nach B. Ausstieg mit ihrem Komplizen Edin S. verkracht. Der habe immer mehr Geld verlangt und versucht, Galya S. zu erpressen: Er werde zur Polizei gehen und auspacken, auf seinem Telefon habe er Beweise. Über Mittelsmänner engagierte Galya S. deshalb zwei Tschetschenen, die Edin S. verprügeln, das Telefon abnehmen und die Beine brechen und sollten. Dazu kam es nur deshalb nicht mehr, weil Edin S. sich bereits ins Ausland abgesetzt hatte.

Auch wenn es so weit bei B. nicht kam, seine Schuld holte ihn ein. Das Gericht verurteilte ihn am Freitag zu anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung, die Bewährungszeit wurde auf zwei Jahre festgelegt und der Werteinzug von 71.651,32 Euro verhängt, auch wenn mit dem Urteil einige Fragen offen bleiben – nicht nur nach B.s Rolle bei der Beschaffung der Daten für die gefälschten Rezepte, sondern nach Angaben des Richters vor allem nach Vergütung, die er von H. erhielt. „Dass Sie als Familienvater ihre wirtschaftliche Existenz für 10.000 Euro aufs Spiel gesetzt haben, halte ich für fragwürdig“, so der Richter, der damit nicht nur auf das jetzige Verfahren anspielt.

„Ich weiß, was ich getan habe, es wäre aber schön, wenn das Strafmaß so ausfällt, dass ich im Berufsgerichtsverfahren, das ich wohl nicht vermeiden kann, wenigstens meine Approbation behalten kann. Denn das ist alles, was mir beruflich bis zur Rente noch geblieben ist“, hatte der Angeklagte nach den Schlussplädoyers noch angemerkt. Ihm Richter sei das Dilemma durchaus bewusst. „Wenn Sie Ihre Approbation verlieren, haben Sie natürlich kein Einkommen mehr für die Wiedergutmachung“, erklärte er bei der Urteilsverkündung. „Andererseits frage ich mich als Bürger, ob ich will, dass Sie nach dem, was sie getan haben, weiter als Apotheker arbeiten dürfen. Das wird das Berufsgericht entscheiden müssen.“

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