Nur noch wenige Tage, dann könnten schwerkranke Patienten mit einem Kassenrezept über Cannabis am HV-Tisch stehen. Mitte Februar hat der Bundesrat der Freigabe zugestimmt, sobald das Gesetz offiziell verkündet ist, dürfen Ärzte bei medizinischer Notwendigkeit Blüten oder Extrakt verordnen. Was ist zu tun, wenn eine entsprechende Verordnung in der Apotheke vorgelegt wird? Die wichtigsten Fakten im Schnellcheck.
Wie ist der Status quo?
Bislang waren nur Fertigarzneimittel auf Basis von Cannabis als verkehrs- und verschreibungsfähige Betäubungsmittel eingestuft (Anlage III Betäubungsmittelgesetz, BtMG). Zubereitungen aus Cannabis waren verkehrs-, aber nicht verschreibungsfähig (Anlage II). Patienten brauchten eine Ausnahmeerlaubnis, um Cannabis zur medizinischen Selbsttherapie in einer Apotheke zu kaufen. Die Kassen übernahmen die Kosten dann nicht.
Was ändert sich jetzt?
Mit der Novellierung werden Cannabis-Zubereitungen den zugelassenen Präparaten gleichgestellt. Damit können sie zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden. Außerdem wird in der Betäubungsmittverschreibungsverordnung (BtMVV) klargestellt, dass Cannabis nicht nur als Zubereitung, sondern auch in Form von getrockneten Blüten verschrieben werden darf.
Welchen Patienten kann Cannabis verordnet werden?
Laut Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis, wenn „eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht“ oder diese nach Einschätzung des behandelnden Arztes „unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann“. Zweite Vorbedingung ist, dass „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht“.
Wie sehen die entsprechenden Rezepte aus?
Als Betäubungsmittel darf Cannabis nur auf BtM-Rezept verschrieben werden. Zulässig ist die Verordnung von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und von Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon.
Wie viel Cannabis darf verordnet werden?
Laut novellierter BtMVV darf der Arzt innerhalb von 30 Tagen pro Patient bis zu 100 g Cannabis in Form von getrockneten Blüten verschreiben. Bei Cannabisextrakt gilt bezogen auf den Gehalt an ∆9-Tetrahydrocannabinol die bisherige Höchstgrenze von 1000 mg.
Ist der Einsatz von Cannabis genehmigungspflichtig?
Eine Ausnahmegenehmigung nach Paragraf 3 Absatz 2 BtMG ist nicht mehr erforderlich. Allerdings ist bei erstmaliger Verordnung vorab ein Antrag auf Kostenübernahme zu stellen. Die Kassen dürfen die Genehmigung nur in begründeten Ausnahmefällen ablehnen. Die Kassen müssen wie sonst auch innerhalb von drei Wochen entscheiden, bei Palliativpatienten sogar innerhalb von drei Tagen nach Antragseingang.
Muss jede Apotheke Rezepte Cannabis abgeben?
Laut GKV-Spitzenverband wird Cannabis in jeder Apotheke erhältlich sein. Aufgrund der ärztlichen Verschreibung unterliegen Apotheken dem Kontrahierungszwang nach Paragraf 17 Absatz 4 Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO).
Kann jeder Arzt Cannabis verordnen?
Weder Tier- noch Zahnärzte dürfen Rezepte über Cannabis ausstellen. Für „normale“ Ärzte gelten laut GKV-Spitzenverband keine besonderen Anforderungen, insofern gelten für die Verordnung von Cannabis die allgemeinen Regelungen der vertragsärztlichen Versorgung.
Welche Optionen gibt es?
Angeboten werden neben den Fertigarzneimitteln Sativex (Cannabis-Dickextrakt, GW/Almirall) und Canemes (Nabilon, AOP Orphan) verschiedene Ausgangsstoffe zur Verarbeitung in der Apotheke. Das können Cannabis-Blüten sein, die von Spezialgroßhändlern angeboten werden und geraucht oder inhaliert werden. Alternativ gibt es von Bionorica einen Extrakt sowie die Reinsubstanz Dronabinol, die im Rahmen der Rezeptur weiterverarbeitet werden. Über die Zulassung für das Fertigarzneimittel Kachexol streitet der Hersteller aus Neumarkt mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).
Was sind die Vor- und Nachteile der Blüten?
Cannabis-Blüten werden seit zehn Jahren mit Ausnahmegenehmigung eingesetzt, hat also eine gewisse Tradition. In der Szene wird teilweise die Ansicht vertreten, dass Rauchen besser hilft. Tatsächlich wirkt gerauchtes Cannabis schneller und kürzer als die vergleichbaren oral anzuwendenden Produkte. Die Bioverfügbarkeit ist allerdings unklar, da selbst bei kontrollierter Qualität der Drogen je nach Inhalationstiefe unterschiedliche Mengen in der Lunge ankommen. Für Inhalatoren liegen gar keine Erfahrungen vor. Entsprechend haben sich Ärzte und Apotheker gegen den Einsatz der Blüten ausgesprochen. Dazu kommt, dass sie vergleichsweise teuer sind.
Was sind die Vor- und Nachteile der Fertigarzneimittel?
Sativex ist seit mehreren Jahren auf dem Markt. Die Wirksamkeit gegen Spasmen bei Multipler Sklerose wurde in Studien belegt, der Einsatz in anderen Indikationen wird erforscht. Außerdem ist das Präparat im Vergleich zu den anderen Therapieoptionen preiswert. Allerdings sehen Kritiker Compliance-Probleme: Das Einsprühen der alkoholischen Lösung in den Mundraum können zu Läsionen und damit zu Akzeptanzproblemen führen. Trotz der Technologie sei die Galenik ein Flop. Dazu kommt: Der Einsatz von Sativex ist auf die Indikation MS beschränkt. Canemes kann gegen Emesis und Nausea als Begleiterscheinungen einer Chemotherapie eingesetzt werden.
Was sind die Vor- und Nachteile von Dronabinol und Cannabis-Extrakten?
Der Extrakt wird seit 2008 hergestellt, die Reinsubstanz sogar schon seit 2002. Dronabinol hat im Markt eine deutlich größere Präsenz erlangt und wurde mittlerweile bei tausenden Patienten eingesetzt. Vor allem in Österreich, wo die Kosten bereits übernommen wurden, gibt es Erfahrungen in der Breite. Nachteil sind die hohen Kosten, die der Rezepturzuschlag mit sich bringt.
Wo ist Cannabis zu beziehen?
Cannabis-Blüten werden derzeit etwa von Fagron aus den Niederlanden importiert. Zudem haben sich Pedanios und MedCann auf dieses Feld spezialisiert. Künftig soll der Anbau der Kontrolle des BfArM unterliegen. Heißt: Die Behörde vergibt im Rahmen von Ausschreibungen die Aufträge und kauft die gesamten Bestände auf, um sie dann an Apotheken weiter zu vertreiben. In Bonn werden damit auch die Preise festgelegt. Da das Vergabeverfahren noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, wird vorerst weiter auf Importe zurückgegriffen werden müssen. Bionorica liefert seine Produkte direkt und über den Großhandel, auch die Fertigarzneimittel sind ganz normal zu bestellen.
Wie werden die Ausgangsstoffe in der Apotheke verarbeitet?
Blüten werden abgefüllt, der Extrakt wird zu öligen Tropfen verarbeitet. Alternativ gibt es die Möglichkeit, mit Lecithol als Emulgator eine wässrige Lösung herzustellen. Dronabinol wird ebenfalls zu öligen Tropfen oder zu Kapseln verarbeitet. Für Cannabidiol-Lösungen sowie die Dronabinol-Zubereitungen existieren NRF-Vorschriften. Bionorica liefert ein komplettes Set, der Wirkstoff ist in einer Spritze mit 250, 500 oder 1000 mg zuzüglich 10 bis 40 mg Überfüllung enthalten. Als blass-gelbes bis farbloses Harz muss Dronabinol mittels Heißluftpistole oder Fön auf circa 70 Grad aufgewärmt werden. In tropffähiger Form wird der Wirkstoff entweder in Miglyol 812 (Öl) oder Softisan (Kapseln) aufgelöst und entsprechend weiterverarbeitet. Die Haltbarkeit beträgt dann sechs Monate.
Welche Identitätsprüfungen gibt es für Cannabis?
Bionorica liefert mit dem jeweiligen Set einen entsprechenden Schnelltest. Cannabis-Blüten werden entsrechend DAC-Monographie geprüft. Diese wurde im März 2016 von der zuständigen Kommission beschlossen und im Sommer 2016 aufgenommen. Im Oktober wurde außerdem eine Monographie zu Cannabisblüten für das Deutsche Arzneibuch (DAB) verabschiedet. Im Unterschied zur DAC-Monographie wurde hier eine optimierte und zeitlich verkürzte Gehaltsbestimmungsmethode aufgenommen. Infolge zahlreicher Kommentare wurde im Nachgang zur offiziellen Anhörung die Lagerungstemperatur im schriftlichen Umlaufverfahren von der DAB-Kommission von 2 bis 8 Grad auf unterhalb 25 Grad geändert. Derzeit befindet sich die Monographie in der EU-Notifizierung.
Welche Dokumentationspflichten gibt es?
Im Rahmen des BtM-Verkehrs gelten die entsprechenden Vorschriften.
Wo kann man sich informieren?
Die Hersteller halten umfassende Informationsmaterialien bereit. Außerdem gibt es derzeit Fortbildungsveranstaltungen der Apothekerkammern. Das BfArM will Anfang März in Berlin über die Details zum Anbau und Verkehr bekannt geben und dann auch FAQ für Ärzte und Apotheker veröffentlichen.
Wie ist die Studienlage?
In einer Reihe von kontrollierten Studien wurde die klinische Wirksamkeit von Cannabis bei verschiedenen Indikationen untersucht. Bei der Indikation „chronischer Schmerz“ gibt es rund 30 Studien mit fast 2500 Patienten. Ein Drittel der Probanden berichtete dabei eine Reduktion der Schmerzen. Am effektivsten war dabei die inhalative Aufnahme von THC.
MS und Paraplegie sind weitere Indikationen, bei denen der Effekt von Cannabis bereits untersucht wurde: In 14 Studien mit mehr 2200 Patienten konnte gezeigt werden, dass sich Cannabinoide positiv auf die Spasmensymptomatik auswirken.
Zu der Indikation „Chemotherapie-induzierte Übelkeit und Erbrechen“ findet man ebenfalls rund 30 kontrollierte Studien mit mehr als 1700 Patienten. Alle Studien konnten den größeren Nutzen der Cannabinoide im Vergleich zu Placebo oder anderen Therapieoptionen zeigen.
Eine weitere Indikation ist die Appetitsteigerung bei HIV/AIDS: Die appetitsteigernde Wirkung von THC wurde an mehr als 250 Patienten gezeigt. Patienten, die mit Dronabinol therapiert wurden, nahmen stärker an Gewicht zu als unter Placebo.
Wie viele Patienten kommen für eine Therapie in Frage?
Eine Abschätzung trauen sich die Experten derzeit nicht zu. Bei Bionorica hat man sich darauf eingestellt, dass das Drei- bis Vierfache des bisherigen Bedarfs abgerufen werden könnte. Lieferengpässe werde es nicht geben, verspricht Firmenchef Professor Dr. Michael Popp.
Wie ist die Resonanz der Ärzte?
Bionorica hat zehn Außendienstler zu Ärzten geschickt. Die Resonanz sei positiv, sagt Popp. Denn die Mediziner hätten nun für austherapierte und oft gut informierte Patienten eine neue Option an der Hand. Da die Indikation bewusst offen gehalten wurde, könnten Rezepte von Onkologen sowie aus Schmerz- und MS-Zentren kommen. Auch bei kleineren Indikationen wie Tourette-Syndrom könnten Ärzte Cannabis verordnen.
Welche Rolle spielt medizinischer Cannabis bislang?
In Deutschland verfügten zuletzt 1004 Patienten über eine Ausnahmeerlaubnis, Cannabis zur medizinischen Selbsttherapie in einer Apotheke zu kaufen. Alleine 2016 wurden 452 Genehmigungen erteilt. Dass nicht mehr Patienten entsprechende Anträge gestellt haben, hängt mit den hohen Kosten zusammen. Die Gerichte sahen bislang keinen Rechtsanspruch auf Erstattung. Zwei Patienten war es erlaubt, Cannabis zu medizinischen Zwecken anbauen. Inklusive Dronabinol wurden rund 5000 mit Cannabis behandelt.
Wie werden Patienten umgestellt?
Vorerst kann weiter auf Basis der Ausnahmegenehmigungen versorgt werden. Allerdings sollen die Patienten innerhalb von drei Monaten auf die reguläre Versorgung umgestellt werden. Die Genehmigung sollte dann zurückgegeben werden.
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