Es reicht: Holland-Versender gründen eigene Kasse Patrick Hollstein, 15.07.2023 06:41 Uhr
Die niederländischen Versender treten die Flucht nach vorne an. Weil es beim E-Rezept hakt, man bei der Preisschlacht auf Rezept nicht weiterkommt und auch die Sache mit den Videosprechstunden nicht so recht funktioniert, gründen DocMorris und Shop Apotheke jetzt eine eigene Krankenkasse: die BKK Rezeptbonus.
Schon lange träumt man in Heerlen und Venlo vom digitalen Ökosystem. „Sie müssen nicht mehr zum Arzt gehen, Sie müssen nicht mehr in die Apotheke gehen, Sie kriegen das alles online“, versprach der frühere DocMorris- und künftige Redcare-CEO Olaf Heinrich bereits 2018 vor Investoren. Als „Amazon des Gesundheitswesens“ trete man an, um ein 800 Jahre altes Gildensystem abzulösen.
Nun ja, fünf Jahre später haben die angeblich so ineffizienten Apotheken nicht nur die Pandemie gemeistert, sondern legen sich auch tagtäglich ins Zeug, um Lösungen für die grassierenden Lieferengpässe zu finden. Und zwar zum Nulltarif, wie Abda-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening gerade noch einmal zu Protokoll gab. An einigen Stellen wird es sogar weniger: Bei Cannabis entfällt demnächst die BtM-Gebühr – wenn nicht ohnehin gleich das ganze Rezept auf Null retaxiert, weil der überlebenswichtige Zusatz „Blüten“ fehlte.
Und selbst beim E-Rezept sind die Apotheken dem tristen Mittelalter längst entkommen: Die meisten sind ready, auch für die eGK-Variante. Bei ADG und Noventi läuft noch die Pilotphase, bei CGM Lauer ruckelte es etwas bei Rezepten ohne Normgrößen.
So macht sich bei den sonst so verhätschelten Versendern der eiskalte Dunst der Ernüchterung breit. Sollte Digitalisierung etwa ohne sie funktionieren? Sollte die Politik sie fallen lassen, nur um das E-Rezept als Steckvariante durchzuboxen? Und wo sind die Kassen, die ihnen doch zwei Jahrzehnte lang bereitwillig jeden Stein aus dem Weg geräumt hatten?
Gemeinsam treten DocMorris und Redcare jetzt die Flucht nach vorne an. Mit dem Segen von Gesundheitsökonom Professor Dr. Jürgen Wasem („Die paar Vorstandgehälter machen den Kohl nicht fett.“) gründen die beiden Versender mit der BKK Rezeptbonus eine Krankenkasse. Das Ganze ist auf Skaleneffekte ausgelegt: Arztbesuche werden ausnahmslos per Videosprechstunde abgehalten, alle E-Rezepte gehen automatisch im Wechsel an die beiden Versender. Sämtliche Versichertenkarten werden dazu in einem Schließfach am Bahnhof Eindhoven hinterlegt, wo sie vorsorglich einmal am Tag in ein mobiles eGK-Lesegerät eingesteckt werden. Ein Bonus wird in Form einer jährlichen Zahnreinigung als Satzungsleistung gewährt.
Rabattverträge schließt Abteilung Einkauf, wobei Eigenmarken bevorzugt bezuschlagt werden. Bei der Rezeptkontrolle nimmt es die hauseigene Retaxabteilung auch nicht allzu streng, genaugenommen besteht das Team aus zwei Wippvögeln auf einem leeren Schreibtisch in einer verlassenen Besenkammer. Auch Kostenvoranschläge werden per Blankovollmacht ausgestellt.
Nachdem als Gründungsmitglieder der BKK Rezeptbonus automatisch alle Mitarbeitenden zwangsrekrutiert wurden, erhalten im zweiten Schritt alle Kundinnen und Kunden den Versichertenstatus zum Vorteilspreis: Ein Betrag in Höhe des jeweiligen Arbeitsnehmeranteils wird monatlich auf dem Kundenkonto gutgeschrieben und kann bei der nächsten Bestellung auf OTC-Arzneimittel und freiverkäufliche Gesundheitsprodukte eingelöst werden, Aktionsangebote sind ausgenommen und eine Barauszahlung ist ausgeschlossen.
Vermutlich würden die beiden Versender wohl tatsächlich am liebsten eine eigene Krankenkasse gründen, denn, man muss es so sagen, in Sachen E-Rezept macht sich tatsächlich Panik breit. Bei der eGK-Variante sind die Holländer außen vor, und für das Einscannen des Codes in der Arztpraxis braucht es erst ein Update – wenn es überhaupt als Anwendungsfall taugt. Auch bei Gesund.de sieht man die Felle schon davon schwimmen.
Eher beiläufig war das Landgericht Bonn zu dem Schluss gekommen, dass auch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) das E-Rezept auf seinem Nationalen Gesundheitsportal allzu rosig dargestellt hatte. Am Kapitalmarkt und bei Investoren wachsen die Zweifel, ob Versender und Plattformen wirklich so stark vom E-Rezept profitieren wie sie jahrelang behauptet haben. Nur GoSpring & Co. können vorerst aufatmen: Sildenafil und Tadalafil werden nach einer erneuten Abstimmung im Sachverständigenausschuss immer noch nicht rezeptfrei.
Nicht umsonst hat DocMorris in der vergangenen Woche eine Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht. Doch womöglich landet die Sache schneller wieder beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) als gedacht: Der Bundesgerichtshof hat nämlich ein Verfahren in Luxemburg vorgelegt. Und die Sache steht unter keinem guten Stern: Denn eigentlich hatte DocMorris nur 14 Millionen Euro an Schadenersatz von der Berufsvertretung gefordert, stattdessen haben die Karlsruher Richter erneut die Grundsatzfrage nach Rx-Boni gestellt. Es bleibt also oberspannend. Schönes Wochenende!