Erst Armutskrise, dann Covid-19: Eine deutsche Apothekerin hilft in Argentinien Tobias Lau, 21.06.2020 07:47 Uhr
Erst war die Lage dramatisch, dann begann die Krise: So ließe sich die Situation Argentiniens zusammenfassen. Die Covid-19-Pandemie trifft auf einen Staat, der de facto bankrott ist. Für die Menschen in den Armutsvierteln des einst wohlhabenden Landes sind die Folgen katastrophal. Es ist nicht Sars-CoV-2 selbst, sondern die Maßnahmen zum Schutz vor dem Virus, wegen derer Millionen Menschen vor den Scherben ihrer Existenz stehen. Was folgt, ist eine humanitäre Krise. Dr. Carina Vetye ist für Apotheker ohne Grenzen vor Ort und versucht zu helfen, wo sie nur kann.
Schaut man nur auf die offiziellen Zahlen, steht Argentinien eigentlich gut da: Laut Johns Hopkins University hat das Land mit rund 32.000 Infektionen und 850 Todesfällen im internationalen Vergleich noch eher wenige Opfer zu beklagen. Doch das ist noch nicht einmal die halbe Wahrheit. „Den offiziellen Zahlen ist nicht zu trauen, allein schon weil die Zahl der Tests hier lächerlich ist“, sagt Vetye. „Ich habe keine Ahnung, wie viele Fälle es in Wirklichkeit gibt. Für mich ist ausschlaggebend, was in den Krankenhäusern und Gesundheitszentren passiert.“ Und das ist dramatisch, denn die Maßnahmen der Regierung retten zwar Menschenleben vor Covid-19, stürzen aber gleichzeitig Millionen in noch größeres Elend und gefährden ihre Gesundheit wiederum dadurch. Es ist ein grausames moralisches Dilemma.
Denn Argentinien war schon vor der Pandemie wirtschaftlich am Ende – mal wieder. Einst das wohlhabendste Land Südamerikas, wurde es in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich heruntergewirtschaftet. „Egal von welcher Partei, niemand hat sich jemals nachhaltig um die Probleme des Landes gekümmert. Es geht seit Jahrzehnten nur bergab. Argentinien ist eines der wenigen Länder auf der Welt, in denen es den Enkeln schlechter geht als ihren Großeltern damals“, erklärt Vetye. Und sie weiß, wovon sie spricht: Die Doppelstaatsbürgerin ist gebürtige Argentinierin mit europäischen Vorfahren. Ihr Großvater kam 1925 ins Land, als es noch blühte. 1988 verließ seine Enkelin es mangels Perspektive wieder und ging nach Deutschland, ließ Approbation und Promotion hier anerkennen, arbeitete in der Arzneimittelzulassung und als Vertretung in Apotheken, um dann schließlich erst in Teil- und dann in Vollzeit zu Apotheker ohne Grenzen zu wechseln. Dort baute sie ab 2002 das Argentinien-Projekt der humanitären Hilfsorganisation auf.
Denn die wirtschaftliche Lage in ihrer alten Heimat war auch damals schon katastrophal. Zuletzt rutschte das Land 2001 in den Staatsbankrott, erholte sich dann ein wenig, hatte seitdem aber immer wieder mit schweren Wirtschaftskrisen zu kämpfen. Nun steht Argentinien wieder kurz vor der Situation von 2001. Ende Mai hätte der Staat 503 Millionen Euro an Zinsen zurückzahlen müssen und konnte das nicht mehr. „Argentinien ist de facto zahlungsunfähig. Momentan wird noch mit den Gläubigern verhandelt, nur deshalb wurde die Staatspleite noch nicht offiziell verkündet“, erklärt sie.
Die ständigen und andauerten Krisen haben tiefe Spuren in der Wirtschaftsstruktur des Landes hinterlassen: „Die Steuerlast ist extrem hoch, deswegen arbeiten sehr viele Menschen schwarz.“ Rund 40 Prozent der Bevölkerung sind mittlerweile im informellen Sektor beschäftigt, schätzt Vetye. Und genau diese Menschen – ohnehin in der unteren Hälfte der wirtschaftlichen Skala gefangen – sind nun am stärksten von der Pandemie betroffen: Denn die argentinische Regierung hat bereits am 20. März eine der striktesten Ausgangssperren weltweit verhängt. Aus dem Haus darf seitdem nur, wer zum Arzt muss oder in einem systemrelevanten Beruf arbeitet. Das muss allerdings mit einer Arbeitsbescheinigung samt Steuernummer nachgewiesen werden. Wer schwarz arbeitet, hat natürlich weder einen systemrelevanten Beruf, noch die zugehörige Steuernummer. Hinzu kommt das Versicherungssystem. Das ist in Argentinien ähnlich wie in den USA: Wenige Menschen sind teuer privatversichert, viele hingegen über ihre Arbeitgeber. Wer also weder Geld noch einen offiziellen Arbeitgeber hat, ist meist nicht krankenversichert. Staatliche und kommunale Versorgungssysteme gibt es zwar auch – doch der Staat ist bekanntlich pleite.
Auch Vetye arbeitet in einer städtischen Versorgungseinrichtung: dem Gesundheitszentrum des Elendsviertels Villa Zagala am Rand von Buenos Aires. Es ist kein Slum, wie man ihn aus afrikanischen oder asiatischen Metropolen kennt, vielmehr zeugt die Gegend davon, dass es dem Land einst besser ging als heute. „Hier werden viele Behausungen in alte Fabrikhallen hineingebaut“, erklärt sie. „In diesen ehemaligen Fabriken leben dann zum Teil hunderte Leute und es ist dort ziemlich spooky. Stromleitungen werden abenteuerlich verlegt, die sanitären Bedingungen sind teilweise katastrophal.“ Wer sich stattdessen ein eigenes Heim baut, tue das meist mit Hohlziegeln und Blech. „Wir haben hier eine Temperaturspanne von 0 bis 40 Grad, da kann man nichts aus Pappe zimmern.“
Nur ein städtisches Krankenhaus gibt es für die geschätzt 500.000 Einwohner von Villa Zagala – und das hat sage und schreibe 14 Intensiv-Betten. Das argentinische Gesundheitssystem hat drei Ebenen: Stadtverwaltung, Provinzverwaltung und nationale Verwaltung mit jeweils eigenen Krankenhäusern. Alle drei Ebenen sind schwer überlastet. „Die städtische Ebene kann nur wenig abdecken und auf Provinzebene gibt es hier nur zwei Krankenhäuser, von denen eines bereits im April wegen infizierten Personals in die Knie gegangen ist“, erzählt Vetye. Deshalb kommen die Menschen zumeist in das Gesundheitszentrum, in dem sie arbeitet. „Hier können sie kostenlos Ärzte sehen, aber auch Impfungen und Arzneimittel erhalten – das wäre aber ohne Apotheker ohne Grenzen nur Theorie“, sagt sie. Denn in der Praxis fehlt es den Zentren massiv an Personal und Medikamenten. „Mein Arbeitsplatz hier hat nichts mit einer deutschen Apotheke zu tun. Es ist ein langer Flur, vielleicht 12 bis 14 Quadratmeter, mit ein paar Schränken.“
Zu neunt haben sie dort früher Dienst in Teilzeit geschoben, Vetye arbeitete mit sechs ehrenamtlichen argentinischen Kollegen und zwei Angestellten zusammen. Doch dann kam die Pandemie. „Die jüngste Kollegin ist 68, die älteste 80. Ich musste ihnen gleich zu Beginn sagen, dass sie nicht mehr kommen können, weil sie zur Risikogruppe gehören.“ Die beiden von Apotheker ohne Grenzen angestellten Mitarbeiterinnen sind geblieben, um die Medikamente aus dem städtischen Arzneimittelprogramm abzugeben, aber die sind kein Fachpersonal. Resultat: „Ich habe nur noch ein Drittel des Personals, aber das Doppelte an Arbeit.“
Ohne funktionsfähiges Krankenhaus steht es aber auch schlecht um die Versorgung von Covid-19-Patienten und deren Isolation. „Das ist hier wie 2015 mit den Geflüchteten in Deutschland, als Sporthallen leergeräumt und mit Feldbetten vollgestellt worden“, sagt Vetye. Wird ein Patient positiv getestet, kommt er zur Isolation in eines dieser „Bettenlager“, wie sie es nennt. „Denn wenn im Slum acht Leute in einem Zimmer wohnen, dann kann sich da natürlich niemand isolieren.“
Hinzu kommt, dass auch die ärztliche Versorgung durch die Pandemie in Mitleidenschaft gezogen wurde. „Es wurde hier dasselbe gemacht wie in Deutschland: Den Ärzten wurde gesagt, sie sollen Termine blocken, damit sie Kapazitäten für Covid-19-Patienten haben. Zahnärzte dürfen auch nicht mehr arbeiten, deshalb kommen teilweise Patienten mit starken Zahnschmerzen, denen wir dann nur ein Antibiotikum geben können.“ Das größte Sorgenkind ist jedoch nicht die Akutversorgung, sondern vor allem die Chroniker. „Unsere Aufgabe ist es, die Coronabelastung zu stemmen, ohne die anderen Patienten zu vernachlässigen, was ja vielerorts passiert“, erklärt die Apothekerin. „Es gibt hier aber viele Chroniker, vor allem Diabetiker und Hypertoniker. Das ist das Hauptproblem. Bei akuten Problemen versuchen Familie und Freundeskreis Geld zusammenzulegen und das benötigte Arzneimittel zu kaufen, aber chronische Krankheiten ziehen ganze Familien in die Armut. Viele sind total verzweifelt: Sie haben keine Arbeit und kein Geld. Ihre Medikamente selbst zu bezahlen, Monat für Monat, ist vollkommen unrealistisch.“
Doch die notwendigen Arzneimittel muss auch Vetye erst einmal besorgen. Vormittags kümmert sie sich um die Patientenversorgung, der Nachmittag gehört dann der Beschaffung. „Wir sind auf Spenden angewiesen und haben dabei drei Bezugsquellen: Arzneimittel aus nationalen und städtischen Programmen sowie die von Apotheker ohne Grenzen mit Spendengeldern gekauften Medikamente. Für diese sind wir dringend auf finanzielle Unterstützung angewiesen, denn wir ergänzen die lokal vorhandenen Arzneimittel und da fehlt leider sehr viel“, erklärt sie. In dieser Reihenfolge – national, städtisch, Apotheker ohne Grenzen – versucht sie bei Bedarf zu beschaffen und muss dabei nach Verfügbarkeit und Verfalldatum koordinieren. Doch was aus den ersten beiden Quellen kommt, sei oftmals entweder nicht brauchbar, weil es dafür im Gesundheitszentrum keinen Bedarf gibt, oder schlicht viel zu wenig. „Das nationale Programm hat zum Beispiel genau drei Tabletten Fluconazol geliefert. Die waren nach vier Stunden weg.“ Dennoch hat sie es geschafft, ein kleines Lager mit etwa 100 bis 120 verschiedenen Wirkstoffen und Darreichungsformen aufzubauen, um wenigstens die grundlegendste Versorgung zu gewährleisten.
Sie hat dazu eine Liste der stets verfügbaren Wirkstoffe angefertigt und in den Behandlungszimmern der Ärztinnen im Gesundheitszentrum ausgehängt, damit die wissen, was sie verschreiben können. Zuweisungsverbot und die Trennung zwischen Arzt- und Apothekerberuf sind unter diesen Umständen natürlich hinfällig, es muss genommen werden, was gerade da ist. Das gilt auch für die Verordnungen: „Wenn wir zum Beispiel aus einem der Programme Multivitamintropfen mit kurzem Verfalldatum erhalten, dann gehe ich zu den Ärztinnen und sage ihnen, dass sie die jetzt Kindern mit Mangelernährung verschreiben können, weil wir die gerade dahaben.“
Schwierig zu besorgen sind auch Grippe- und Pneumokokken-Impfstoffe. Doch gerade die werden gerade umso mehr gebraucht, denn in Argentinien steht der Winter vor der Tür. Im Gesundheitszentrum können sich die Bewohner zwar kostenlos impfen lassen – aber eben nur, wenn gerade etwas da ist. „Jetzt kommt die Grippewelle und die Impfungen hätten eigentlich schon im April und Mai erfolgen müssen“, so Vetye. „Außerdem hatten wir dieses Jahr einen Peak bei Dengue-Fieber-Fällen. Wenn hier jemand mit Fieber kommt, kann der Grippe, Dengue-Fieber oder Covid-19 haben – ich weiß es nicht.“
Die wichtigste Herausforderung sei es, eine Basisversorgung mit einem Grundstock stabil verfügbarer Arzneimittel aufzubauen und langfristig zu halten. „Es gibt keine Pharmazeuten in den Elendsvierteln, die Arzneimittelabgabe wird von Leuten gemacht, die nur eingearbeitet werden, sodass sie beispielsweise 30 Enalapril- oder 10 Ibuprofen-Tabletten abgeben können. Denen fehlen natürlich die Kenntnisse, um einschätzen zu können, was und wie viel gebraucht wird und was sie dementsprechend besorgen müssen“, erklärt sie. „Ich arbeite dafür, gezielt das zu bekommen, was wir tatsächlich brauchen. Arzneimittel sind Maßarbeit, es bringt uns nichts, irgendetwas an Medikamentenspenden zu erhalten. Ich sorge dafür, dass die richtigen Medikamente in der richtigen Menge und Qualität verfügbar sind.“
Große Hoffnungen, dass sich die Versorgungslage bald bessert, hat sie nicht – im Gegenteil. Denn die wirtschaftliche Lage spitzt sich weiter zu. „Die Wirtschaft wird gerade komplett abgewürgt. Es wurde für ein Kündigungsverbot verhängt, gleichzeitig herrscht aber weiter die strikte Ausgangssperre. Die Folge werden massenhafte Insolvenzen kleiner und mittlerer Unternehmen sein.“ Außerdem geht es mit der Währung bergab. Das Muster ist altbekannt: Der Staat kann nicht mehr zahlen, also druckt er Geld. Die Folge: Inflation. Bekam man im August noch 50 Argentinische Pesos für einen Euro, sind es mittlerweile fast 80. Ebenfalls im August führte Argentinien Devisenkontrollen ein, die nun noch weiter verschärft werden. „Der Staat gibt das Geld nur langsam frei, es wird also Importprobleme geben. Arzneimittel und deren Ausgangsstoffe werden aber größtenteils importiert. Es werden deshalb künftig noch mehr Medikamente fehlen. Ich denke, die nächsten Monate werden sehr hart werden.“
Durch diese Härte wird Vetye die Bewohner begleiten, denn dass sie so bald zurück nach Deutschland kommt, ist nicht zu erwarten. Seit dem 5. März ist sie in Buenos Aires und wäre eigentlich nur sechs Wochen geblieben. Doch dann kam der Lockdown, alle Auslandsflüge wurden gestrichen. Weggekommen wäre sie als deutsche Staatsbürgerin trotzdem. „Ich hätte natürlich die Möglichkeit gehabt, mich wie andere auch mit dem Rückholprogramm des Auswärtigen Amtes nach Deutschland fliegen zu lassen, aber das wollte ich nicht. Mein Platz ist hier.“