Apotheker müssen sich wohl auch nach Einführung des E-Rezepts damit abfinden, regelmäßig neue Anwendungen in ihre Arbeits- und Verwaltungsprozesse zu integrieren. Denn die bis jetzt erprobte und angedachte Struktur von E-Rezept, ePatientenakte (ePA) und elektronischem Medikationsplan (eMP) ist nur ein Ausgangspunkt, von dem aus in Zukunft reihenweise neue Funktionen und Anwendungen in die Arzneimitteltherapie entwickelt werden können. „Das E-Rezept hat extrem viele wunderbare Dimensionen“, fasst es Gematik-Chef Dr. Markus Leyck Dieken zusammen. Eine seiner Visionen: Irgendwann könnten nicht nur Rx-, sondern auch alle OTC-Arzneimittel, die ein Patient nimmt, standardmäßig digital verbucht werden.
„Lasst uns Rosenkränze beten, dass der Gesundheitsminister seinen Posten noch lange hat, damit die Digitalisierung des Gesundheitswesens auch mit Verve weitergeht“, schwärmt Leyck Dieken von der Schützenhilfe aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG), die ihm derzeit so viel Arbeit verschafft. Und tatsächlich deckt sich Leycks Diekens Auffassung mit der des Ministeriums: Digitalisierung müsse als iterativer Prozess verstanden und Schritt für Schritt angegangen werden – dafür aber so schnell wie möglich. Ein einzelner großer Wurf sei nicht möglich, erklärt auch Christian Klose, der im BMG die für die Gematik, Telematikinfrastruktur und eHealth zuständige Unterabteilung leitet. „Der Markt bewegt sich agil, also müssen wir auch agil Gesetze dazu machen“, so Klose. Oft sei er schon gefragt worden, wann denn die Regierung das eine entscheidende Gesetz mache, das die Digitalisierung regelt – doch das gebe es nicht. Stattdessen enthielten 16 der 18 unter Spahn entstandenen Gesetzentwürfe Passagen, die sich auf die Digitalisierung beziehen.
Leyck Dieken und Klose operieren also am offenen Herzen. Die Einführung von E-Rezept, ePA und eMP ist gesetzlich vorgeschrieben – das heißt aber noch lange nicht, dass sie mit Einführung fertige Produkte sind. „Wir wollen ja nicht nur elektronische Verordnungen im Arzneimittelbereich, sondern am Ende das gesamte Gesundheitswesen digitalisieren“, so Klose, der sein Lager wie der Gematik-Chef auf einer Fachtagung beim Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) in Berlin vertreten hat.
Und die Möglichkeiten der Digitalisierung sind sowohl zum Nutzen der Krankenversicherer, der Arzneimittelhersteller als auch der Patienten mannigfaltig. Leyck Diekens Vision ist dabei, die elektronische Patientenakte zum „Flugzeugträger des Gesundheitswesens“ zu machen, wie er es ausdrückt. Soll heißen: Alle wichtigen Funktionen und Informationen laufen darin zusammen – müssen dazu aber auch dort ankommen. „Ein elektronischer Medikationsplan, in dem nur die Hälfte steht, ist nicht überzeugend“, sagt der promovierte Mediziner und ehemalige Ratiopharm-Deutschlandchef. Es müssten in Zukunft Wege gefunden werden, wie beispielsweise auch die Selbstmedikation, speziell OTC-Präparate, Eingang die digitale Akte finden. Technisch sei das in den Apotheken durchaus ohne größeren Aufwand umsetzbar. „Schlüssige Digitalisierung ist nur dann erfolgreich, wenn sie Arbeitsabläufe erleichtert statt erschwert“, so Leyck Dieken. „Wir glauben, dass OTC geht.“
Auch aus Versichertensicht spielt das Thema Nutzerfreundlichkeit eine große Rolle – und der Verbraucher ist bereits heute ein enorm hohes Maß an Bequemlichkeit gewöhnt. Leyck Dieken will da mit der Gematik am Puls der Zeit bleiben. So habe die Gematik bereits direkte Gespräche mit Apple geführt, um auszuloten, wie NFC-Schnittstellen in die neuen Versichertenkarten integrierbar seien. NFC ist Nahfeldkommunikation, ein internationaler Übertragungsstandard, bei dem Daten mittels elektromagnetischer Induktion übertragen werden. Die Idee der Gematik: Der Versicherte hält seine Karte einfach ans Smartphone und seine elektronische Patientenakte öffnet sich automatisch.
So wie die technischen Möglichkeiten vielfältig seien – Leyck Dieken nennt beispielsweise auch automatische Vorlesefunktionen von Beipackzetteln für Blinde, um Gesetzen zur Barrierefreiheit gerecht zu werden – sind aber auch die Stellen, an denen noch nachgebessert werden muss: „Selbst Kollegen im BMG waren erstaunt, dass die Einlösung eines E-Rezepts nicht automatisch in der ePa oder im eMedikationsplan abgelegt wird“, erklärt der ehemalige Pharmamanager. Aus Datenschutzgründen sei das nämlich technisch nicht spezifiziert und gesetzlich nicht festgeschrieben worden – für ihn kein haltbarer Zustand. „Wir müssen hier meiner Meinung nach unbedingt einen automatischen Flow haben, bei dem jedes eingelöste E-Rezept auch seinen Weg in die ePatientenakte findet.“
Auch anderswo stehe der Datenschutz der patientenfreundlichen Umsetzung im Weg – nicht zuletzt, weil beim E-Rezept weitaus höhere Sicherheitsstandards angelegt werden als beim klassischen Papierrezept. So sei es anders als beim Papierrezept rechtlich nicht so einfach zulässig, einen Ausdruck des Tokens, also des 2D-Codes, einfach an einen Verwandten zu geben, der das Rezept für einen abholt – nur der Empfänger der Verordnung ist nämlich berechtigt, ihn in der Apotheke einzulösen. „Auch hier müssen weitere Gespräche geführt werden, um zu einer lebensnahen Lösung zu kommen“, so Leyck Dieken. „Datenschutzrechtlich ist es absurd, dass wir für das E-Rezept andere Maßstäbe anlegen als für das heutige Papierrezept.“ Seine Kritik ist noch grundlegender: Es sei von großer Bedeutung für die weitere Digitalisierung des Gesundheitswesens, dass endlich ein Konsens über Grundfragen des Datenschutzes wie das Recht auf Vergessen oder die Frage der Datenhoheit hergestellt wird.
Denn falsche Auffassungen von Datenschutz stünden letztendlich auch dem höheren Wohl der Patientengesundheit im Wege, beispielsweise bei der Auswertung und Einbindung aktueller Gesundheitsdaten und wissenschaftlicher Erkenntnisse. „Die wahre Motivation für die Digitalisierung sind jahresaktuelle medizinische Daten zu jedem Patienten“, so Leyck Dieken. Denn diese ermöglichten eine nicht nur eine bessere Diagnostik, sondern auch bessere Therapiemöglichkeiten.
Von Ärzteseite kommen dagegen keine grundsätzlichen Einwände. Auch die Kassenärzte hätten große Erwartungen, die Sebastian John, Leiter der Abteilung Sicherstellung bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), aber auch gleich etwas dämpfen will. „Das E-Rezept ist keine eierlegende Wollmilchsau, mit der alle Kommunikationsprozesse abgedeckt werden können“, sagt er. Auch bei der Ärzteschaft seien noch viele Fragen offen, insbesondere zur Zukunft des Papierrezepts. Dass das irgendwann ausläuft und irgendwann nur noch rein elektronische Verordnungen angewendet werden, sei auch aus Ärztesicht optimal – auch wenn gesetzlich noch kein Ende des Parallelbetriebs festgeschrieben wurde.
Allzu schnell wird das ohnehin nicht gehen, auch bei der Einführung des E-Rezepts geht die Gematik nämlich Schritt für Schritt vor. Am 1. Juli 2020 wird es jedenfalls noch nicht flächendeckend und umfassend eingeführt sein. Vielmehr werde Mitte 2020 erst einmal das E-Rezept für normale GKV- und PKV-Arzneimittelverordnungen eingeführt und ein Jahr darauf dann BtM-Verordnungen, T-Rezepte und grüne Rezepte, kündigt Leyck Dieken an. Für die Angst der Apotheker, dass die Einführung des E-Rezepts zu einer Abwanderung von Verordnungen an Versandapotheken führt, zeigt er am Rande der Konferenz Verständnis – diese Gefahr sei real. Zumindest hier ist ein kleiner Dissens mit dem BMG zu erkennen. Klose widerspricht dieser Befürchtung nämlich. „Aus meiner Sicht stärkt die Digitalisierung die Apotheke vor Ort – wenn man sie richtig umsetzt“, sagt er. „Und damit meine ich tatsächlich die Apothekerschaft selbst.“
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