Mit seiner Aussage, Apotheken nutzten die Sonder-PZN missbräuchlich, steht Matthias Mohrmann von der AOK Rheinland/Hamburg nicht alleine da: Seit einer Woche werden etwa in der Sonnen-Apotheke in Mönchengladbach vermehrt Belege gefordert, die den Austausch des verordneten Arzneimittels rechtfertigen.
Eigentlich waren Inhaberin Andrea Prochaska und ihr Team der Ansicht, dass sie in den vergangenen Monaten im Kampf gegen die Engpässe auch bei der Abrechnung alles richtig gemacht hatten: So habe man die richtige Sonder-PZN auf das Rezept gedruckt und eine handschriftliche Begründung auf der Vorderseite in korrekter und lesbarer Form angegeben, erklärt die Inhaberin. Und dennoch wurden von GfS, Spektrum K und der Techniker Krankenkasse (TK) jetzt Belege nachgefordert, die das korrekte Procedere bei der Abgabe beweisen.
„Das ist jetzt das Neueste, das angezweifelt wird, dass die Sonder-PZN richtig ist. Das ist ein systematisches Vorgehen, welches uns extrem viel Zeit kostet. Und das wissen die Krankenkassen ganz genau“, schimpft Prochaska. „Und die bodenlose Behauptung des AOK-Vize öffnet Tür und Tor für diesen ganzen Bullshit.“
Spektrum K unterstellt Prochaska im Namen der Viactiv Krankenkasse, bei der Abgabe von Venclyxto im Juni vergangenen Jahres einen Fehler begangen zu haben: Anstelle der verordneten Variante von CC-Pharma hatte die Apotheke das Original abgegeben – und zwar weil dieser einzige – und mittlerweile sogar komplett aus dem Sortiment gestrichene – Reimport zu diesem Zeitpunkt nicht lieferbar war. Die Sonder-PZN wurde korrekt auf das Rezept gedruckt, trotzdem wurden jetzt 167,30 Euro für das hochpreisige Blutkrebsmedikament gekürzt. Wie der Betrag zustande kommt, erschließt sich aus dem Schreiben der Retaxstelle nicht; Original und Import lagen eigentlich nur 1 Euro auseinander. Der Nachweis der Nichtverfügbarkeit geht nun mit dem Einspruch an Spektrum K.
In einem weiteren Fall geht es um einen Streitwert von 4,74 Euro. Die TK will die Mehrkosten für eine im Notdienst abgegebene Packung Perenterol-Kapseln für ein Kind nicht bezahlen. Verordnet war das Pulver, das im August jedoch nicht lieferbar war. Prochaska hatte extra Rücksprache mit dem Arzt gehalten und dies per Sonder-PZN und handschriftlichem Vermerk dokumentiert. Daher sieht sie die Kasse in der Pflicht, die Mehrkosten zu tragen.
In einem dritten Fall spricht die Retaxfirma GfS im Namen der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) eine Vollabsetzung aus: Im November wurde anstelle der nicht verfügbaren Codeintropfen von CT das Alternativpräparat Paracodin abgeben. Auch hier hatte es telefonische Rücksprache mit dem behandelnden Arzt gegeben, sodass der Patient versorgt werden konnte. Obwohl kein Rabattvertrag existierte, das entsprechnede Sonderkennzeichen gesetzt wurde und die Preisdifferenz gerade einmal bei 1 Euro lag, will GfS auf Null retaxieren.
Prochaska reicht es. Sie überlegt, ob sie den Retaxstellen wegen der unberechtigten Kürzungen eine Rechnung schreibt: „Wir reden hier von einem enormen Mehraufwand, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Das ist unfassbar“, findet die Inhaberin. „Die schrecken vor nichts zurück, auch nicht vor geringen Beträgen.“ Man schlage sich den Notdienst um die Ohren, um die Patient:innen zu versorgen, und müsse sich trotzdem bei jedem Rezept fragen, ob man denn überhaupt das Geld für das abgegebene Medikament bekomme.
Da offenbar jeder einzelne Vorgang kontrolliert werde, stellten die Kassen die Apothekerschaft unter Generalverdacht, nicht richtig abzurechnen. Und das in einer Zeit, die von Nichtlieferbarkeiten geprägt sei. Prochaska fragt sich: „Welcher Kollege will hier demnächst unter diesen Bedingungen überhaupt noch arbeiten?“
Viele Apotheken hätten weder das Personal noch die Zeit, sich mit Belegen zu ein paar wenigen Euro zu beschäftigen, und verzichteten oft auf den Einspruch. Für die Kassen sei das gefundenes Fressen und absolutes Kalkül: „Die setzen darauf, dass man auf Kleinbeträge verzichtet, weil der Aufwand für die Apotheke in keinem Verhältnis steht. Aber es muss ums Prinzip gehen. Die merken nicht mehr, was wir für die leisten. Wir werden ungerecht behandelt – so sieht es aus.“ Es gehe allerdings nicht immer nur um kleine Beträge von etwa vier Euro und ein paar Cents, sondern auch um Retaxationen hochpreisiger Arzneimittel.
Ihre Mitarbeiterin, die sich um Retaxangelegenheiten kümmert, sei den ganzen Freitagnachmittag nur damit beschäftigt gewesen, die entsprechenden Beweise der betreffenden Fälle herauszusuchen, die Einsprüche zu formulieren und abzusenden. Hinterher müsse man dann nachhalten, ob dem Einspruch auch stattgegeben wurde. „Und es gibt Apotheken, deren Computersysteme die einzelnen Vorgänge gar nicht archivieren und die Online-Abfrage von den Großhändlern nicht dokumentieren können. Die müssen kartonweise nicht Lieferbarkeiten manuell archivieren. Das ist doch Wahnsinn. Das muss aufhören. Und zwar sofort.“
Der Prüfaufwand sei angesichts der Lieferengpässe ein Affront: „Die Beschaffung reicht ja im Grunde schon, dass die Menschen ihre Medikamente überhaupt bekommen, aber dass wir jetzt auch noch in der Beweispflicht sind, dass das auch alles so gelaufen ist – jetzt hört es auf“, so Prochaska. „Das nimmt mir absolut den Spaß an diesem Beruf. Ich bin einfach nur noch fassungslos. Kriegen die Krankenkassen überhaupt noch was mit? Wir versorgen deren Versicherte!“
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