DocMorris: Spahn erstattet die Bonus-Steuer Tobias Lau, 02.11.2019 08:05 Uhr
Deutschland im Jahr 2023: Das E-Rezept ist schon lange da, die Apotheken so langsam weg. Viele zumindest, denn die DocMorris-Strategie ist aufgegangen, die Ärzte ins Boot zu holen und so die eigene App zum Standardverordnungsvehikel zu machen. Nur eines wurmt den Versandriesen: Der Staat schuldet ihm Geld, einen ganzen Haufen sogar. Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte 2021 geurteilt, dass der deutsche Fiskus ihm die Rx-Boni erstatten muss. Zum Glück hat sich Bundeskanzler Jens Spahn (CDU) eine öffentlichkeitswirksame Aktion überlegt.
Merz, Altmaier, Kramp-Karrenbauer – Spahn hat sie alle hinter sich gelassen und ist da angekommen, wo er schon seit der Krabbelgruppe hinwollte. Nur einen kriegt der erste Bundesgesundheitskanzler nicht klein: seinen alten Nemesis Max Müller. Debatten über ihre angebliche Nähe haben sie lange hinter sich gelassen, wie in jedem guten Politdrama wurden die einstigen Verbündeten zu erbitterten Gegnern. Und für beide geht es um was: Denn im Streit um die Frage, ob DocMorris Rx-Boni als Aufwendungen steuerlich geltend machen und so einen Steuerminderungsanspruch für sich behaupten kann, stellte sich der EuGH hinter den Versender.
„Aber DocMorris zahlt doch gar keine Steuer!“, rief Spahns Finanzminister Friedrich Merz noch von Berlin aus herüber, als könnte er damit die Entscheidung des EuGH beeinflussen. „Halt dich da raus, es geht hier um die Sicherstellung eines fairen und niedrigschwelligen Zugangs zur Arzneimittelversorgung – und das ist mein Ressort!“, wies ihn Gesundheitsminister Karl Lauterbach aber in die Schranken. Und so fügte sich die Regierung und schlug den einzig gangbaren Weg ein: Wo keine Steuerschuld gemindert werden kann, muss der Aufwand erstattet werden. In Heerlen ratterten die Taschenrechner.
Doch Spahn versuchte sich querzustellen. Das mache doch keinen Sinn, sagt der mittlerweile sichtlich gealterte 43-Jährige: Erst erlaubt der EuGH den Hollandversendern mit den Rx-Boni etwas, was den Vor-Ort-Apotheken verboten ist. Und dann, fünf Jahre später, entscheidet er, dass ihnen eine Kompensation durch den deutschen Staat zusteht, weil die Sache Geld kostet, das die deutschen Apotheken – wenn es ihnen denn erlaubt wäre – steuerlich anrechnen könnten. DocMorris & Co. werden quasi dafür entschädigt, dass ihnen ein Wettbewerbsvorteil gewährt wurde – die Bevorteilung der Versender im Namen der Wettbewerbsgerechtigkeit im Binnenmarkt führt ebendiesen ad absurdum.
Spahns Argumentation ist vielleicht kompliziert, aber logisch – sollte man meinen. Doch wir leben in postfaktischen Zeiten, Gefühle gehen vor Tatsachen. Bei der Bundestagswahl 2020 war die AfD so stark, dass ihre Machtergreifung nur durch die Mosambik-Koalition (schwarz-rot-grün-rot-gelb und eine Kalaschnikow) verhindert wurde. Und so spielte DocMorris seine Meinungsmacht aus: Die Ärzte stehen geschlossen hinter dem Versender – logisch, sie verdienen ja auch an jedem Rezept, das sie ihm senden.
Der Konzern machte jede deutsche Praxis zum Lautsprecher: „Kanzler Spahn untergräbt die Versorgung!“, schallte es ein Jahr lang jedem Patienten entgegen. So dick sein Fell sein mag, diesem öffentlichen Druck hält auch Spahn nicht stand. Er beugt sich dem Druck und vollzieht medienwirksam seinen Gang nach Canossa: Der Kanzler kriecht zu grünem Kreuze und erstattet die Boni-Aufwendungen des Vorjahres in Heerlen persönlich und in bar – weil es social-media-tauglicher ist als eine Überweisung.
Der deutsche Staat muss Versandapotheken in Holland die Rx-Boni erstatten, weil sie in Deutschland keine Steuern zahlen: Klingt absurd, ist es auch. Aber ganz aus der Luft gegriffen ist das dystopische Szenario nicht – es kommt vom Bundesfinanzhof (BFH), der es dem EuGH als extremste aller Entscheidungsoptionen vorgelegt hat. Denn DocMorris hat es erneut nach Luxemburg geschafft. Selbst der BFH scheint damit nicht glücklich zu sein, denn solche „Segelanweisungen“ nach oben sind nicht nur ungewöhnlich, diese hier liest sich geradezu wie eine Mahnung.
Bei so manchem „Partner“ in der Selbstverwaltung dürfte sich die Entrüstung über eine weitere Nackenschelle für die Apothekenbranche allerdings in Grenzen halten. Die heutige Apotheke ist ohnehin ein Auslaufmodell – meint man zumindest bei der AOK. Das sagt nicht ihr wohlvergüteter Top-Manager Christopher Hermann, sondern finden Sabine Richard und Sabine Beckmann, die im AOK-Mitgliedermagazin kürzlich zu einem Rundumschlag gegen die Branche ausholten. Mehrbesitzverbot? Weg damit! Rezeptur? Zentralisieren! Wozu das wenig fundierte Apotheken-Bashing gut sein soll, weiß man nicht. Vielleicht haben die Damen persönliche Karriereambitionen und denken, sich mit solchen Ergüssen im GKV-Lager in Szene setzen zu können.
Natürlich fehlen auch Abgabeautomaten nicht im AOK-Pamphlet. Selbst diese seien besser als die Apotheke in ihrer heutigen Struktur. Aufgepasst, AOK-Amazonen: Im sächsischen Mühltroff tritt eine E-Rezept-Box die Nachfolge einer Apotheke an. Der weiße Kasten scannt analoge Rezepte und schickt sie an die nahegelegene Apotheke – anders als beim echten E-Rezept, das zumindest in den Albträumen vieler Apotheker direkt aus der Praxis nach Holland geht.
Mit den Apothekern in die neue Zeit gehen will dagegen die TK. Der Leiter des E-Rezept-Pilotprojekts sagt jenen Präsenz-Apotheken eine glorreiche Zukunft voraus, die die neue Technik für sich zu nutzen wissen.
Andere Apotheken müssen dichtmachen – da braucht es nicht erst das E-Rezept. Der Bundesgerichtshof hat die Zwangsräumung einer Apotheke in Leipzig vorerst für rechtens erklärt, der der Mietvertrag dann doch gekündigt worden war. Aber schließen zu dürfen, ist auch nicht immer selbstverständlich, selbst wenn der Betrieb ein Verlustgeschäft ist, wie ein aktuelles Urteil des OLG Koblenz zeigt. So kann der langfristige Mietvertrag, wie er in der Apothekenbetriebsordnung steht, teuer werden. Kleiner Tipp: Nach zusätzlichen Erlösmodellen suchen: In Westfalen-Lippe hat sich ein ehemaliger Kammervorstand von einer Firma einspannen lassen, die Heilpraktikern apothekenpflichtige Medikamente verkauft.
Wenn keine Kunden kommen und man trotzdem in der Nähe bleiben muss, kann man ja so lange ums Haus joggen. Und wenn es mal regnet, vertreibt man sich die Zeit eben mit Lektüre: Dank der neuen Umschau-Konkurrenz kann man ja jetzt zweimal hintereinander das Gleiche lesen und dann vergleichen, wer es besser geschrieben hat. Wenn man dann durch ist und trotzdem noch nicht raus kann, liest man eben die unendliche Geschichte des modernen Apothekers: die Defektliste.
Die bietet dem frustrationsresistenten Pharmazeuten nachhaltigen Lesegenuss, wenn er denn kein Mitgefühl empfindet. Denn ob es nun an Lieferverträgen, einer toxischen Marktkonzentration bei den Herstellern oder – wie im Fall von medizinischem Cannabis – an einer schlecht gemachten Ausschreibung des BfArM liegt, ist eigentlich schon fast egal. Die aktuelle Lage jedenfalls bringt nicht nur Pharmazeuten regelmäßig in die Bredouille, sondern kann vor allem für die betroffenen Patienten schwerwiegende Folgen haben. Wenigstens beim Privatfernsehen scheint man den Einsatz der Apotheken für die Patienten zu schätzen, wie ein RTL-Beitrag kürzlich nahelegte. Und das ist doch eine Erkenntnis, mit der man die Woche abschließen kann: Auch wenn es wirtschaftlich, politisch und juristisch drunter und drüber geht. Da draußen gibt es trotzdem noch ein paar Leute, die gute pharmazeutische Arbeit zu schätzen wissen. In diesem Sinne: ein schönes Wochenende!