Es gibt Momente im Leben, da zweifeln selbst Richter an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Da liest man sich tief in einen Fall ein, hört sich allerlei obskure Argumente der Parteien an und durchwühlt schließlich die Rechtsprechungsdatenbanken, um zu einem halbwegs gerechneten und konsequenten Urteil zu gelangen – und dann wirft irgendeine nachgeordnete Instanz alles über den Haufen. Aus lauter Verzweiflung hat jetzt ein Provinzgericht ein Exempel statuiert und die Beratung in der Apotheke komplett verboten. Stichwort: Ausländerdiskriminierung.
Dass sie sich einmal mit Apothekenpreisen würde befassen müssen, hatte Richterin Barbara Leschsal nicht gedacht. Normalerweise ging es am Amtsgericht Hintertupfing um kleinere Erbstreitigkeiten, Grenzzäune und Weiderechte. Aber nun hatte die Apotheke im Ort einer Stammkundin ein paar unverkäufliche Frotteehandschuhe in die Tüte gesteckt, weil ihr bei der Übergabe des Rezept die kalten Hände aufgefallen waren. Und weil in so einem kleinen Ort nichts geheim bleibt, lag der Fall nun auf Richterin Leschsals Tisch.
Schon die kursorische Prüfung der Rechtslage machte der Juristin bewusst, auf welches Terrain sie da geraten war. Bundesgerichtshof gegen Bundesverwaltungsgericht, dann Einigung im Gemeinsamen Senat, dann gesetzliche Nachbesserung. Dann aber Kollege Schüttpelz aus Düsseldorf, Europäischer Gerichtshof und zwack, war die schöne Preisbindung in der Mitte entzwei geteilt: Wer seinen Kunden nicht von Angesicht zu Angesicht beraten kann, der darf ihn wenigstens bestechen. Wer dagegen vor Ort die Versorgung sichert, der darf es nicht.
Zwar konnte Richterin Leschsal nicht auf Anhieb nachvollziehen, warum Versender auf der Flucht vor Fremdbesitzverbot und Gemeinwohlpflichten einen Wettbewerbsvorteil zugestanden bekommen sollten, um ihr Geschäftsmodell („kreativer Zerstörer“) zu retten. Die Lösung für ihren Fall lag aber auf der Hand: Wenn deutsche Apotheken eben partout nicht auf das kleine Präsent für ihre treusten Kunden verzichten wollten, dann müssten sie eben auf die Beratung verzichten. Einfach im Handverkauf Pflaster über den Mund kleben – hilfsweise schallabsorbierenden Mundschutz verwenden – und tschüß AMPreisV! Fall abgeschlossen.
Zugegeben, soweit sind die Gerichte noch nicht. Aber die Argumentation, so schief sie auch sein mag, ist echt: Solange die (börsennotierten) Versender (aus Holland) noch einen vergleichsweise geringen Marktanteil haben, dürfen (inhabergeführte) Apotheken (vor Ort) sich nicht benachteiligt fühlen, entschied in dieser Woche das Bundesverwaltungsgericht im Streit um Kuschelsocken und in Übereinstimmung mit einer früheren Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Merke: Diskriminierung ist relativ und immer eine Frage von Mehrheitsverhältnissen und Marktanteilen.
Man muss den Richtern in Karlsruhe und Leipzig freilich zugute halten, dass sie die Preisbildung nicht aufgeben, sondern mit ihren obskuren Entscheidungen versuchen, sie irgendwie zu retten. Denn auch wenn es schon die Dimension von EZB-Programmen braucht, damit oberste deutsche Gerichte sich offen gegen die Kollegen in Luxemburg stellen: Der Unmut über das Urteil zu den DocMorris-Boni schwingt in jeder aktuellen Entscheidung zum Thema mit. Was seit drei Jahren fehlt, ist die angeforderte Stellungnahme der Bundesregierung zum Thema. Herr Spahn, schauen Sie doch mal auf Ihren Zu-Erledigen-Stapel!
Die Zeit spielt jedenfalls für die Versender, E-Rezept und Corona-Krise beflügeln jedenfalls die Fantasie von Analysten und Anlegern. Shop-Apotheke verkündete eine halbe Million Neukunden und 42 Prozent mehr Umsatz im zweiten Quartal – und räumte ein, allmählich an der Leistungsgrenze angekommen zu sein. Vielleicht mal bei der EU-Kommission fragen, ob die nicht schnell eine neue Halle sponsert.
Ins holländische Exil hat jedenfalls auch Apo-Discounter verschlagen. Der Versender aus Leipzig hat in Duiven eine Logistikhalle in Betrieb genommen; die dortige Schwesterfirma spendiert Kunden bis zu 30 Euro Bonus pro Rezept. Geworben wird dafür auch im deutschen Webshop, auf den ersten Blick ist nicht so genau zu erkennen, wo die Grenze verläuft. Die Kammer in Sachsen hat die Apothekerin um Stellungnahme gebeten, und auch die Wettbewerbszentrale schaut sich die Konstruktion derzeit genauer an.
Wem solche Möglichkeiten fehlen, weil er eben vor Ort ist, der soll künftig über Plattformen Zugang in die virtuelle Welt finden. Die Initiative Pro AvO kündigte in dieser Woche an, dass ihr gerade erst präsentiertes Konzept Apora nun doch nicht umgesetzt wird – weil man gemeinsam mit Phoenix ein noch größeres Modell aufsetzen will: Eine allumfassende Gesundheitsplattform soll entstehen, an die nicht nur Apotheken, sondern auch Ärzte und andere Leistungserbringer angebunden werden sollen. Bleibt zu hoffen, dass die Dienstleister nicht vergessen, wo ihr Platz eigentlich ist. Dr. Stefan Hartmann will jedenfalls genau hinschauen, dass der Apothekenmarkt nicht auf dem Basar der Eitelkeiten geopfert wird.
Regelrecht bescheiden nehmen sich da die Versuche von Easy aus, Apotheken für das eigene Franchisekonzept zu gewinnen. 600 Apotheken wurden angeschrieben und mit nebulösen Verheißungen um Gesprächstermine gebeten. Switch, lautet das neue Motto, vulgo Umbau. Zumindest Alphanet hat bei Migasa bereits eine neue Heimat gefunden – und der MVDA will die Ehe mit Phoenix wieder aufleben lassen und gibt AEP den Laufpass. Wobei sich die abservierte Geliebte noch nicht damit abfinden will.
Im Tagesgeschäft haben die Apotheken andere Probleme: Preischaos in der Freiwahl, anhaltender Personalmangel, ausuferndes QMS, neue Ringversuche und leicht verspätete Ratschläge der Pharmazieräte. Kollegen in der Zyto-Versorgung sind mit neuen Retaxationen konfrontiert. Und Noventi warnt vor Betriebsprüfungen für den Fall, dass die zertifizierte technische Sicherheitseinrichtung (TSE) nicht rechtzeitig installiert ist.
Neue Impulse könnten nicht nur das neue Iberogast, sondern auch Modellprojekte für Grippeimpfungen in der Apotheke bringen. Noch sind nicht alle Kollegen überzeugt, auch wenn mit knapp 13 Euro immerhin ein halbwegs akzeptables Honorar vereinbart wurde. Wem all das nicht reicht, der muss am Ende seine Apotheke verschenken. Oder wenigstens erst einmal Wochenende machen.
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