Die Zukunft der Apotheke liegt in neuen Dienstleistungen – aber wie sollen die aussehen und was kann abgerechnet werden? Vieles ist noch ungewiss, die Erwartungen sind vielfältig. Beim APOTHEKE ADHOC Talk im Rahmen der Medizinmesse Xpomet wagten Dr. Kerstin Kemmritz (Apothekerkammer Berlin), Tim Steimle (TK), Anike Oleski (Medios-Apotheken Berlin) und Dr. med Manuel Puntschuh (Medgate) einen Blick in die Zukunft.
Die Apotheke muss sich weiterentwickeln, das hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den Pharmazeuten ins Stammbuch geschrieben. Jetzt heißt es raus aus dem Trott. Aber wie? Das sogenannte „Perspektivpapier 2030“ der ABDA gibt dazu nicht allzu viel her, selbst führende Standesvertreter räumen ein, dass in den vergangenen Jahren wertvolle Zeit vergeudet wurde. „Man hätte schneller unterwegs sein können“, sagt Kemmritz. „Was nicht passiert ist, müssen wir jetzt eben aufholen.“
Die neu gewählte Kammerpräsidentin ist optimistisch, dass ihr und ihren Kollegen noch Zeit bleibt, sich einzubringen. Die Digitalisierung braucht aus ihrer Sicht unbedingt auch analoge Kompetenz – und Apotheker seien die perfekten Gesundheitsmanager, um beide Welten zusammenführen. „Das Vertrauen unserer Kunden ist das Pfund, mit dem wir wuchern müssen. Wenn es uns gelingt, unsere Stärken auszuspielen, kann sich der Versandhandel warm anziehen. Wir haben eine gute Zukunft mit jeder Menge wichtiger Aufgaben.“
Kemmritz ist voller Kampfeslust: „Apotheker sind keine knuffigen Bärchen, die man belächeln kann. Wir sind empathisch, immer erreichbar, wir sind Allrounder und gute Netzwerker. Wir verstehen nicht nur Pharmazie, sondern beherrschen auch digitale Tools, und sind übrigens nicht nur leidens-, sondern auch anpassungsfähig. Wenn wir mutig genug sind, schaffen wir auch die Herausforderungen der Zukunft.“
Was die Apotheker jetzt liefern müssten, sei ein überzeugendes Konzept; dies zu entwickeln, sei auch Aufgabe der Standesvertretung. „Wir müssen die im Gesetz vorgesehenen pharmazeutischen Dienstleistungen definieren, denn in Zukunft können wir nicht nur vom Packungshonorar leben. Wir müssen weitere Standbeine aufbauen, die da anfangen, wo die Arzneimittelabgabe aufhört.“
Im Berliner Modell, das die Kammer entwickelt hat, geht es auch um die Unterstützung der Ärzte und eine Stärkung der Gesundheitskompetenz. Kategorie 1 sind einfache Dienstleistungen, die faktisch heute schon erbracht werden, nur ohne institutionalisierten Rahmen. „Ein Level zum Einsteigen.“ Kategorie 2 sind aufwendigere pharmazeutische Dienstleistungen, die zwar keine riesigen Investitionen, dafür aber Fortbildung erfordern können und zeitintensiver sind. Kategorie 3 sind neue, komplexe, pharmazeutische Dienstleistungen, bei denen die Apotheker ihre Spezialisierung nachweisen müssen.
Laut Kemmritz ist es wichtig, dass das Angebot flächendeckend vorhanden ist und dass „möglichst viele, wenn möglich alle“ Apotheken mitgenommen werden. Ihre Vorstellung: An den Modellprojekten werden sich zunächst die mutigen Kollegen beteiligen – sie müssten vorangehen, Visionen erzeugen und die nicht ganz so mutigen mitnehmen. „Jeder, der will, kann mitmachen.“
Damit sich die Apotheke den neuen Angeboten widmen kann, braucht sie Kemmritz zufolge neue Freiräume, die auch durch das E-Rezept geschaffen werden können, wenn dessen Implementierung abgeschlossen ist und der Alltag dazu reibungslos läuft. „Das wird nicht in diesem Jahr sein und vielleicht nicht im nächsten, aber wenn wir gelernt haben, damit umzugehen und der Gesetzgeber uns sichere Rahmenbedingungen dafür liefert, haben wir den Kopf frei für anderes.“
Vor diesem Hintergrund müsste eigentlich jeder mitmachen. „Mir kann kein Apotheker erzählen, dass es seine Intention war, mit einem rosa Zettel durch die Apotheke zu laufen und Packungen alphabetisch zu sortieren.“ Sie ist überzeugt: „Die Kollegen haben Bock darauf, Pharmazie zu machen und nicht Bürohengst zu sein.“ Denn damit der Beruf attraktiv bleibe, müsse er in Zukunft wieder weniger Bürokratie und mehr Pharmazie bieten. „Wir brauchen mehr Raum für das, was uns begeistert.“ Gefragt seien jetzt jede Menge Mut und Selbstbewusstsein. „The future is now, make pharmacy great again!“
Nicht ganz so euphorisch ist Steimle. Der TK-Chefapotheker findet zwar ebenfalls, dass die Apotheke eine gute Zukunft hat. Aber dazu dürften sich die Apotheker nicht länger „an der Packung festhalten“. „Wir brauchen jetzt mutige Apotheker, die bereit sind, sich neuen Konzepten zu öffnen.“
Dass Spahn die Kassen quasi zur Zahlung von 150 Millionen Euro für pharmazeutische Dienstleistungen verpflichtet habe, dürfe man nicht als Freifahrtschein verstehen. Denn im Grundsatz sei es nur zu rechtfertigen, für Leistungen zu zahlen, die tatsächlich innovativ und sinnvoll sind. „Ich habe Sorge, dass am Ende des Tages etwas herauskommt, was nicht einmal die Stufe 1 des Berliner Modells wäre“, so Steimle. Dann könnte die Sache zum Bumerang werden: „Es wäre schlimm, wenn der Nutzen daraus so gering ist, das klar wird, dass das Geld fehlinvestiert ist.“
Laut Steimle geht es beim Thema Digitalisierung auch um mehr als nur Technik, um Kommissionierautomaten und Bestellsysteme. Für ihn sind E-Rezept und auch die digitale Patientenakte ein „Treibstoff“, der ihn geradezu euphorisch mache. „Ich glaube, es geht jetzt sehr schnell. Die Menschen sind schon da, wo die Apotheken noch nicht sind.“
Die TK sei schon sehr weit und sammle in ihrem Modellprojekt Erfahrungen, damit das E-Rezept schnell in die Abläufe der Apotheken integriert werden könne. „Wir sind überzeugt, dass es zu einer deutlichen Entlastung des bürokratischen Aufwands bei Ärzten und Apothekern kommen kann.“
Steimle sieht pharmazeutische Dienstleistungen auch nicht als Abwehrinstrument gegen den Versandhandel: „Wir haben dazu unsere Position, und die ist bekannt. Wir sind für Gleichpreisigkeit, aber gegen eine Verteufelung des Versandhandels.“
Für ihn und die TK stehe das Arzneimittel im Mittelpunkt, nicht aber die Apotheke. „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Apotheke vor Ort zu schützen. Als Kasse denken wir an den Patienten und nicht an die Profession. Wir machen keine Berufs- oder Ständepolitik, sondern vertreten die Interessen unserer 10,3 Millionen Versicherten mit allem, was uns zur Verfügung steht.“ Seine Erwartungshaltung daher: Die Pharmazeuten müssen mitgehen.
Allerdings ist Steimle überzeugt, dass die Arzneimittelabgabe eine Frage des Vertrauens ist. „Die Apotheke vor Ort in Verbindung mit E-Rezept und Vorbestellung ist aus meiner Sicht so viel besser als der Versandhandel. Das ist der Beweis, der jetzt anzutreten ist.“
Am Ende sei unerheblich, was Apotheken und Kassen dächten; pharmazeutische Dienstleistungen müssten ausschließlich beim Kunden „performen“. Daher seien Apotheker gut daran, die Arzneimittelversorgung breiter zu sehen. „Wenn der Patient es wünscht, muss die Apotheke bereit sein, ihn eben auch per Videochat zu beraten.“ Bei der TK sei man den Weg bereits gegangen und könne den Apothekern die Angst davor nehmen, dass Kommunikation über elektronische Formate gefährlich sei.
Apothekerin Oleski bietet ihren Kunden längst das, was demnächst als neue Dienstleistung durchgehen könnte. Ihre vier Medios-Apotheken sehen aus „wie eine normale Apotheke“, doch hinter den Kulissen passiert so Einiges. Bereits vor Jahren habe sie sich bewusst für den Weg der Spezialisierung entschieden, nachdem sie eine Studie gelesen hatte, nach der es nur noch drei verschiedene Apotheken geben werde: die Wellness-Apotheke, die Versandapotheke und die spezialisierte Apotheke, die Leistungen erbringe, die eine normale Apotheke in dem Rahmen nicht leisten könne und wolle.
Heute haben sie und ihre rund 150 Mitarbeiter zahlreiche Services in den Bereichen Ophthalmologie, Onkologie und Neurologie aufgebaut. Ihr Erfolgsgeheimnis: „Wir müssen den Patienten fragen, was er eigentlich will, und uns bei jeder Leistung, die wir anbieten, auch selbst ehrlich fragen: Würde ich das auch haben wollen?“
Beispiele sind der Botendienst bis spätabends oder die Erreichbarkeit des MS-Telefons an 365 Tagen im Jahr. Ihr Team unterstützt Ärzte bei der Einstellung von Cannabis-Patienten. Auch die Rezeptur liegt ihr als Ausdruck der Individualisierung am Herzen: „Wir machen viel, auch wenn sich das nicht immer rechnet.“ Nicht immer geht es um Querfinanzierung: Eine gute Leistung werde vom Patienten mitunter auch bezahlt – und irgendwann vielleicht von der Kasse, so Oleskis Hoffnung.
Das Thema Kooperation ist ihr wichtig; nicht jede Apotheke müsse alles können. „Es braucht eine starke Gruppe ,die vorangeht und auch andere Möglichkeiten hat zu investieren.“ Man dürfe nicht immer im „Apothekersaft“ schwimmen, sondern müsse auch über den Tellerrand schauen. Viele ihrer Ideen habe sie aus anderen Bereichen übernommen. Wichtig sei auch das Team: „Ohne gute Mitarbeiter kann man die Leistungen nicht anbieten. Man muss für das Thema brennen und einfach mal machen – und dabei natürlich die Gesetzeslage im Blick haben. Auch aus ihrer Sicht ist der Zeitpunkt gekommen, Apotheke neu zu definieren. „Wir dürfen nicht an alten Mustern festhalten. Wir müssen uns fragen, was wir als Apotheker besser machen können als andere“, so Oleski.
Vor den Ärzten brauche man keine Scheu zu haben, sie habe bislang gute Erfahrungen gemacht: „Natürlich darf man nicht in das Geschehen eingreifen, aber wenn die Ärzte sehen, dass der Patient gut versorgt wird und es Erleichterungen für ihren Alltag bringt, sind sie zufrieden.“ Wichtig sei, individuell abzusprechen, welche Leistungen Ärzte abgeben wollen. „Das ist immer individuell, und dann muss man sich daran halten.“
Puntschuh ist selbst Arzt und sieht ebenfalls keine Berührungsängste. Sein Arbeitgeber, der schweizerische Telemedizin-Anbieter Medgate, bringt den Arzt dahin, wo der Patient gerade ist. Puntschuh selbst betreut den Bereich Mini Clinic, bei dem die Videoberatung in der Apotheke stattfindet. Auch sein Motto ist: „Man muss einfach mal machen und schauen, welche Leistungen die Patienten annehmen.“ Der Service in einer Offizin in Basel sei gut angekommen: Es gibt keine Voranmeldung, keine Wartezeit aber ein breites Leistungsspektrum. Der Apotheker vor Ort könne bei Bedarf jederzeit einen Arzt per Video hinzuschalten.
In der Schweiz gibt es Telemedizin seit fast 20 Jahren, warum vor zwei Jahren das Terminal in der Apotheke dazu gekommen sei? Apotheken sind laut Puntschuh oft erster Ansprechpartner, genießen ein gutes Image und den Ruf, vor Ort zu sein. Außerdem werde das Rezept digital ausgestellt und könne sofort beliefert werden. Ein Win-Win-Situation für alle. Und ein Modell, das demnächst auch in Deutschland denkbar sein könnte, findet Puntschuh.
„Wenn Apotheker sich nur als Pillenverkäufer sehen, haben sie keine Zukunft“, sagt Puntschuh. „Sie brauchen neue Dienstleistungen, um sich neu zu positionieren.“ Gerade in der ländlichen Versorgung kann die interdisziplinäre Zusammenarbeit auch für mehr Kosteneffizienz sorgen. „Telemedizin ist eine unkomplizierte Alternative.“ Die Weiterempfehlungsrate sei hoch. „Wir sind gespannt, ob unser Konzept jetzt Schule macht auch über die Ländergrenzen hinweg.“
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