Die erste Null-Energie-Apotheke Patrick Hollstein, 12.11.2022 08:20 Uhr
Explodierende Energiepreise, instabile Lieferketten. Die makroökonomischen Probleme treffen im Kleinen auch die Apotheken. Jetzt hat der erste Inhaber umgestellt – sein Betrieb ist energieneutral. Das schlägt gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe.
Energie und Strom, Benzin und Personal: Die Kosten steigen überall so schnell, dass man sich als Kleinunternehmer etwas einfallen lassen muss. Einsparungen sind oft nicht mehr als Flickschusterei, nur ganzheitlich lässt sich die Sache angehen.
Wir präsentieren die erste Null-Energie-Apotheke Deutschlands.
Schon beim Betreten fällt auf, dass auf künstliche Beleuchtung fast ausnahmeslos verzichtet wird. Tief über dem Verkaufstisch hängt eine alte Glühbirne, die ein flackerndes Licht auf den Tresen wirft. Mit etwas Mühe kann man im funzeligen Lampenschein die Rezepte, Arzneimittel und Geldscheine erkennen. Erste Erfahrungen im Erfühlen der korrekten Packungen kommen mit der Zeit. Etwas abseits im Dunkel steht ein Hamsterrad, in dem ein posierlicher Nager den erforderlichen Strom erzeugt. Geld für Futter wird mit einer kleinen Spendenbox gesammelt.
Lücken in der Sichtwahl
Nützlicher Nebeneffekt: In der abgedunkelten Offizin lassen sich die Lücken in der Sichtwahl nicht erkennen, die aufgrund der zunehmenden Lieferengpässe mittlerweile mehr Regalmeter einnehmen als bestückt sind. Weil auch der Kommissionierer ausgeschaltet ist, dienen Teile der Freiwahl mittlerweile als Generalalphabet. Angeklebte Lochkarten geben eine grobe Orientierung, wenn man sich in der Dunkelheit vorantastet.
Darüberhinaus gibt es in der Apotheke nichts mehr, das Strom verbraucht. Die Bildschirme sind aus, die Server runtergefahren. Anstelle der Warenwirtschaft wird wieder ein Kassenbuch geführt. Rabattverträge werden anhand von Tabellenverzeichnissen bedient, die die Kassen zur Verfügung gestellt haben. Die Securpharm-Codes werden für bessere Zeiten abgepaust, E-Rezepte werden grundsätzlich nicht angenommen. Die OTC-Preise orientieren sich an alten Lauer-Listen, die noch im Keller zu finden waren. Einfach eine Null ranhängen, dann stimmt es ungefähr.
Rezeptur und Rekuperation
Auch im Backoffice läuft jetzt wieder alles ohne Strom. Der Kühlschrank wurde abgeklemmt und vor die Tür gestellt, zumindest der Winter lässt sich so überbrücken. Im Labor kommen wieder Handwaage & Co. zum Einsatz – also all jene Gerätschaften, die die Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) schon seit dem Zeitalter der industriellen Revolution vorschreibt. Von wegen alte Relikte... Salben werden wieder von Hand gerührt, über ein improvisiertes Rekuperationssystem lässt sich dabei ein wenig Strom gewinnen, um eine Stirnlampe zu illuminieren.
Beheizt wird nur einmal am Tag, auch hier profitiert die Apotheke von längst überholt geglaubten Vorschriften: Verbrannt werden alte QMS-Ordner, abgelehnte Präqualifizierungsanträge und die komplette Tierarzneimitteldokumentation des Vorvorgängers. Bei der Gelegenheit wird auch die Großhandelsbestellung übermittelt – per Rauchzeichen, versteht sich.
Engpässe ohne Ende
Tatsächlich hat man den Eindruck, dass es im Apothekenalltag derzeit allerorten Defekte gibt. Wobei der Begriff im doppelten Sinne zu verstehen ist – hier zunächst pharmazeutisch:
- Der Engpass bei Fieber- und Schmerzsäften für Kinder hält weiter an. Apotheken müssen Eltern mitunter vertrösten, wenn diese Präparate mit Paracetamol- oder Ibuprofen benötigen. Auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) kritisiert die unsichere Liefersituation. Manche Pädiater:innen gehen bereits soweit, die Eltern zum Einkaufen in ausländische Apotheken zu schicken.
- Auch eines der wichtigsten Antibiotika ist aktuell knapp: Penicillin. Der Trockensaft zum Anfertigen einer gebrauchsfertigen Suspension und Tabletten in verschiedenen Stärken werden gleich von mehreren Herstellern als defekt gemeldet. Andauern sollen die Engpässe mitunter bis zum Sommer nächsten Jahres.
- Novo Nordisk meldet einen weiteren Lieferengpass für Novorapid. Für Diabetiker:innen bedeutet das eine Umstellung auf Alternativen wie Fiasp oder gar auf Insulinpatronen und einen neuen Pen, für Apotheken wird mindestens die Rücksprache mit Ärzt:innen nötig.
- Und auch das Antidiabetikum Ozempic ist nur noch begrenzt verfügar. Grund ist ein Hype um den Wirkstoff Semaglutid, der in den sozialen Medien zur Gewichtsreduktion beworben wird. Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) warnt vor unkalkulierbaren Risiken. Derweil warten Apotheken tagelang auf die Lieferung des Präparats, weil Pharma Mall offenbar Probleme hat.
Der Wurm ist drin
Doch auch als Profanbegrifft trifft der Begriff „defekt“ die aktuelle Situation ganz gut:
- Die Erhöhung des Kassenabschlags hat Folgen: Eine Apothekerin aus Hessen schließt ihre Apotheken zum Jahreswechsel, weil sie wegen der unkalkulierbaren Kosten und des Zwangsrabatts nicht weiß, ob sie im März noch ihre Mitarbeiter bezahlen kann. Eine Kollegin aus Dresden sieht sich ebenfalls veranlasst, die Reißleine zu ziehen. Doch ihr Softwarehaus will sie nicht aus dem 5-Jahres-Vertrag lassen.
- Eine Lösung, um das Packungshonorar aufzubessern, könnten pharmazeutische Dienstleistung sein. Allerdings lässt sich das neue Angebot wegen des Personalmangel vielerorts nicht umsetzen – da helfen auch keine Abholfächer, um die Mitarbeiter zu entlasten. Jetzt zum Start würde sich der Einsatz besonders lohnen, weil genug Geld da ist und die Leistung nicht gedeckelt werden muss.
- Apropos gedeckelt: Manfred Saar, Kammerpräsident aus dem Saarland, hat den DAV aufgefordert, nicht mehr mit den Betriebskrankenkassen über den Hilfsmittelvertrag zu verhandeln. Deren Dachverband hatte nämlich gefordert, die prozentuale Marge bei Hochpreisern zu kappen. So kämpferisch sind sonst nur die Ärzte – die Dermatologen etwa haben die Siemens-BKK wegen ungerechtfertigter Regresse bei der Kassenaufsicht angezeigt.
- Auch bei der Konkurrenz aus dem Netz ist der Wurm drin. Bei Apotal beschweren sich zahlreiche Kund:innen über lange Lieferzeiten und fehlende Erreichbarkeit; selbst die zuständige Apothekerkammer in Niedersachsen wurde bereits eingeschaltet. Eine auf Cannabisversand spezialisierte Apotheke hat versehentlich sensible Daten mehrerer Patient:innen an einen anderen Kunden verschickt. Shop Apotheke will gezwungenermaßen auch ohne E-Rezept durchhalten – und der Lieferdienst Mayd hat kurz nach der Absage des Roll-outs eine entsprechende Funktion freigeschaltet. Perfektes Timing.