Die AOK Hessen hat einen Rechtsstreit verloren. Das mag vorkommen, sogar vor Sozialgerichten. Überraschend, ja geradezu fragwürdig ist, wie unvorbereitet die Kasse in diesen Prozess gestolpert ist und wie sie sich bei der sich abzeichnenden Niederlage verhalten hat. Das Vorgehen ist eigentlich ein Fall für die Aufsicht, kommentiert Alexander Müller.
Nun muss man der Kasse zu Gute halten: Diese Umsatzsteuerfragen werden schnell kompliziert. Weil das Finanzamt den Herstellerabschlag nicht als Zwangsrabatt, sondern als „Zahlung von dritter Seite“ bewertete, wurde zur Berechnung der Umsatzsteuer der komplette Verkaufspreis – abzüglich Apothekenabschlag – zugrunde gelegt. Die Kasse sollte auf nie gezahlte Beträge die volle Umsatzsteuer zahlen. Die Klage einer BKK gegen den Fiskus liegt seit November 2018 beim Bundesfinanzhof (BFH).
Doch erst ein Jahr später machte sich im Kassenlager plötzlich Panik breit, dass das auch für alle inländischen Apotheken Auswirkung haben könnte und Rückforderungen aus 2015 verjähren könnten. Man muss von einer Kasse nicht erwarten, dass sie so komplexe Fragen in der eigenen Rechtsabteilung klärt. Was man erwarten darf: Dass sie sich fachkundigen Rat von Steuerfachleuten einholt und auf dieser Basis eine risikoadäquate Entscheidung trifft. Bei den allermeisten Kassen ist es offenbar genauso gelaufen, denn sie haben weder Verzichtserklärungen von Apotheken gefordert noch mit Klagen gedroht.
Die AOK Hessen – zur Erinnerung: die Kasse, die vor einigen Jahren Millionenbeträge bei Zyto-Apothekern retaxierte, die ihre Versicherten ohne Vertrag versorgt hatten – und eine Handvoll andere Kassen haben dagegen Hals über Kopf alle Apotheken mitten in der Vorweihnachtszeit aufgefordert, sofort auf die Einrede der Verjährung zu verzichten. Die Steuerberater der Apotheker prüften unter Hochdruck und kamen größtenteils zu dem Ergebnis: Diesen Anspruch wird es – unabhängig vom Ausgang des BFH-Verfahrens – nie geben. Okay, haben die Apotheker eben die Arbeit der Kasse gemacht, das ist auch nichts ganz Neues.
Trotzdem verklagte die Kasse am ersten Werktag nach Weihnachten mehrere hundert Apotheken. Das Sozialgericht Kassel konnte mit den apokryphen Forderungen nicht viel anfangen und fragte noch vor Silvester nach. Die AOK möge ihre Ansprüche bitte konkretisieren. Doch dann kam nichts mehr, die Kasse stellte sich tot. Die Richter waren ersichtlich pikiert. Das ist ja auch keine Art, allein bei einem Gericht 74 Klagen anhängig zu machen und dann für Nachfragen nicht zur Verfügung zu stehen.
Und erfolgversprechend ist es auch nicht. Die AOK kassierte gleich mehrere Ohrfeigen: Entscheidung per Gerichtsbescheid, da „die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist“ und „der Sachverhalt […] geklärt ist“. Die Richter schlossen sich auf ganzer Linie den Argumenten der Apotheker an. Verjährt sind die Ansprüche jetzt sowieso, die Kasse überlegt dennoch, ob sie in Berufung gehen soll. Jeder Apotheker, der so seinen Laden führen würde, wäre spätestens nach einem Jahr pleite.
Bei so offensichtlichen Schlappen vor Gericht ist der Vorwurf eines allzu sorglosen Umgangs mit Versichertengeldern nur der nächstliegende, vor allem mit Blick auf die geradezu bockige Verteidigungsunlust. Die von der AOK zu zahlenden Verfahrenskosten sind zwar im Einzelfall aufgrund der geringen Streitwerte nicht besonders hoch – aber es wurden eben gleich mehrere hundert Apotheken verklagt. Kosten für die Anwälte und der eigene Aufwand bei der Kasse kommen noch dazu.
Aufwand wurde aber vor allem bei den Vertragspartnern abgeladen. Die Apotheken sollten sich innerhalb von Tagen in eine Materie einarbeiten, wozu die AOK in einem Jahr nicht in der Lage war. Wer in der ohnehin stressigen Vorweihnachtszeit nicht willfährig eine Verzichtserklärung abgab, wurde verklagt. Das ist eine Zumutung!
Der AOK-Bundesverband hat seine Anzeigen in der „Bild“-Zeitung storniert, weil das Boulevardblatt allzu niederträchtig mit dem Virologen Christian Drosten umspringt. Man könnte die AOK fragen, was genau die Drosten-Hetzjagd gegenüber der bisherigen Arbeit der Bild an der Eignung dieses Mediums für eigene Kampagnen geändert hat. Aber das gehört kaum hierher und diese Versichertengelder sind jetzt mit Sicherheit gut eingespart. Was zu unserem Fall passt: Die AOK gibt der Bild den Laufpass, weil für Krankenkassen die „Brand Safety“ eine große Rolle spiele. Vielleicht sollten die Kassen im Alltagsgeschäft damit beginnen, sich um ihre Marke zu sorgen: Bei Retaxationen, in der Hilfsmittelversorgung – oder eben bei völlig sinnlosen Gerichtsprozessen.
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