Wer ist Schuld, dass die Grippeimpfstoffe fehlen? Wie konnte es so weit kommen, dass Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einen Versorgungsmangel ausrufen muss, damit die Vakzine über Umwege beschafft und Patienten immunisiert werden können? Die Ärzte nicht, die Apotheker nicht, die Hersteller nicht, die Politik nicht – und die Kassen schon gar nicht! Tatsache ist jedoch, dass beispielsweise die AOK Niedersachsen Ärzte angehalten hatte, mit Vorbestellungen zurückhaltend zu sein. Auch die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland Pfalz (KV) warnte die Kollegen vor nicht allzu langer Zeit vor ausufernden Kosten.
Grippeimpfstoffe sind für Ärzte, Apotheken und Hersteller jedes Jahr eine Herausforderung: Wird zu wenig bestellt, drohen Engpässe. Ordern die Praxen jedoch zu viel, bleibt am Ende nur die Entsorgung. In der Vergangenheit konnte der finanzielle Schaden über Rabattverträge zumindest ein Stückweit ausgeglichen werden. Doch Ausschreibungen sind seit vergangenem Jahr Geschichte.
So fürchteten die Kassen, dass unnötige Mengen bestellt werden könnten. Auch die AOK Niedersachsen sah Mehrkosten auf sich zukommen und gab im Rahmen ihrer „Arzt Partner Beratung“ eine Empfehlung an die Mediziner. Darin hieß es: „Ausschließlich die tatsächlich benötigte Menge darf verordnet werden. Vorbestellungen sind in möglichst geringer Stückzahl zu tätigen.“ Ärzte sollten daher nicht die Gesamtmenge für die kommende komplette Impfsaison bestellen. Empfohlen wurde, Verordnungen „bedarfsgerecht in mehreren Schritten“ vorzunehmen. Ärzte sollen weitere Vakzine erst verordnen, „wenn die vorrätigen Mengen nahezu verbraucht sind“. Die Menge an Grippeimpfstoffen solle auf einem einzigen Verordnungsblatt dem jeweiligen monatlichen Bedarf der Arztpraxis angepasst sein. Gegebenenfalls könne auch mehrfach im Monat nachbestellt werden.
Die Kasse erklärte ihren Appell an die Ärzte mit einem möglichen finanziellen Schaden: „140.000 zu viel bestellte Impfstoffe verursachen jährlich etwa 1,7 Millionen Euro unnötige Kosten für die gesetzlichen Krankenversicherungen. Dies sind vermeidbare 12 Prozent aller Impfdosen.“ Die Kasse verwies zudem darauf, dass Apotheken und Hersteller zurückgegebene Impfdosen vernichten, weil aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung jeder Impfstoff nur in einer Saison zur Anwendung kommt.
Kassen würden zudem keinen finanziellen Ausgleich für die zurückgegebenen Impfdosen und den entstandenen Schaden erhalten. Rabattverträge hätten die Kassen in diesem Jahr keine geschlossen, es sei folglich mit Mehrkosten zu rechnen. Ärzte hätten jedoch einen Vorteil: Bei Muster-16-Verordnungen könne unter allen verfügbaren tetravalente Impfstoffen, die subkutan oder intramuskulär verabreicht werden frei wählen. Zu guter Letzt hatte die AOK Niedersachsen an die Ärzte noch eine Bitte: „Prüfen Sie für die bevorstehende Impfstoffsaison 2018/19 Ihre Verordnungen anhand dieser Empfehlungen gewissenhaft.“
Eine Apothekerin aus Niedersachsen, die ihre Vorbestellungen bis Ende Juni Jahres abgeben musste, ärgert sich über diese Anweisung: „Wenn die AOK Niedersachsen die Ärzte auffordert, die voraussichtlich benötigte Menge nicht vorab zu bestellen, sondern erst in der Impfsaison immer nur bei Bedarf kleine Mengen zu verordnen, muss sich niemand wundern, wenn im Akutfall nicht genügend Impfstoffe zur Verfügung stehen.“
Hersteller seien natürlich auch nicht interessiert, überflüssigen Impfstoff zu produzieren. „Genauso wollen Großhändler und Apotheker das finanzielle Risiko nicht übernehmen und nicht benötigte Ware am Ende einfach weg werfen. Immerhin kostet uns Apotheker eine 10er-Packung zwischen etwa 90 und 100 Euro im Einkauf, als Rohertrag erwirtschaften wir beim Verkauf 6 Euro pro Packung.“
In Rheinland Pfalz hatte die KV die Ärzte im August ebenfalls um Zurückhaltung gebeten: „Keine Vorbestellungen. Die KV RLP erinnert noch einmal daran, keine Grippe-Impfstoffe vorzubestellen, sondern diese bei Bedarf in angepassten Mengen zu ordern. Hilfreich zur Orientierung ist eine Teilmenge der verbrauchten Grippeimpfstoffe der Saison 2017/2018. Nicht verbrauchte Impfstoffe können nicht zurückgegeben werden. Bei Überhängen zwischen Bezug der Grippeimpfstoffe und Abrechnung der Impfziffern können Regressforderungen durch die AOK Rheinland-Pfalz/Saarland im Namen der Gemeinschaft der Kostenträger entstehen.“
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hatte als mögliche Ursachen für die aktuellen Lieferengpässe neben der höheren Nachfrage aufgrund der letzten, schwer verlaufenen Grippesaison auch verspätete Bestellung von Impfstoffen durch Apotheker und Ärzte genannt. Außerdem könnte die Direktverträge zwischen Krankenkassen und Apothekern ein Grund sein, dass regional Impfstoffe fehlten, genauso wie die Überbevorratung von Impfstoffen in manchen Arztpraxen und Apotheken.
Spahn sagte: „Jeder, der will, muss sich gegen Grippe impfen lassen können.“ Bis zum 2. November wurden vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) 15,7 Millionen Impfdosen freigegeben. Allerdings wurden 207/18 mehr Dosen produziert und freigegeben; die aktuelle Menge erreicht das Niveau der Saison 2016/17.
Mit dem ausgerufenen Versorgungsmangel können die zuständigen Behörden der Bundesländer im Einzelfall gestatten, dass Grippeimpfstoffe, die nicht in Deutschland zugelassen sind, befristet in Verkehr gebracht oder nach Deutschland importiert werden. Darüber hinaus können die Behörden auch ein befristetes Abweichen von arzneimittelrechtlichen Erlaubnis- oder Genehmigungserfordernissen oder von anderen arzneimittelrechtlichen Verboten gestatten. Beispiele sind:
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