Mit Kry ist ein neuer Big Player auf den deutschen Telemedizin-Markt gestoßen – der noch dazu mit DocMorris kooperiert. Patienten können sich am Handy behandeln und eine elektronische Verordnung ausstellen lassen, um sie in einer Apotheke vor Ort einzulösen – oder sie zu DocMorris zu schicken. Geht das wirklich? Wie kommt das E-Rezept in die Apotheke? Wir haben es einfach mal selbst versucht: Mit echter Identität und vorgetäuschter Krankheit haben wir uns ein Rezept ausstellen lassen, um es in einer Vor-Ort-Apotheke einzulösen. Doch so einfach ist das gar nicht.
Die Anmeldung läuft schon mal unkompliziert. Es müssen Name, Geburtsdatum, Adresse, Telefonnummer und E-Mail-Adresse angegeben werden. Daraufhin wird man gefragt, wo man krankenversichert ist – und zwar mit dem Hinweis, dass man nur bei einer privaten Krankenversicherung die Erstattung der Kosten beantragen kann. „Wenn du gesetzlich krankenversichert bist, kannst du zwar mit einem Arzt sprechen, erhältst aber keine Kostenerstattung für den Termin.“ Wir klicken auf „Versicherung überspringen“.
Daraufhin wird der nächstmögliche Termin angezeigt. Es ist 16.12 Uhr und wir können einen Termin um 16.20 Uhr buchen – was wir auch tun. Die Kry-App fragt uns: „Wobei können wir dir helfen?“ Von A wie Akne bis V wie Verstopfung werden zahlreiche Beschwerdebilder angezeigt. Wir haben einen Harnwegsinfekt und klicken auch darauf. Es erscheint ein Warnhinweis, der auf das konkrete Beschwerdebild zugeschnitten scheint: „Wichtig zu wissen: Lass dich in einer Arztpraxis oder beim Notarzt behandeln, wenn du Fieber oder wiederkehrende starke Schmerzen hast, oder wenn du vor kurzem am Bauch operiert wurdest.“
Wir klicken auf weiter und werden gefragt, wie lange die Harnwegsinfektion schon besteht – einen bis zwei Tage. Im nächsten Fenster sollen wir zutreffende Symptome auswählen: Wir haben ein Stechen und Brennen beim Wasserlassen, häufigeres Wasserlassen als sonst und Blut im Urin. „Nimmst du zurzeit irgendwelche Medikamente?“ und „Bist du auf irgendwelche Medikamente allergisch?“, fragt die App uns. Auch ob wir in den letzten drei Monaten ungeschützten Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern hatten, will Kry wissen – aber wir leben monogam und verhüten vorbildlich. Und dann will Kry noch wissen, ob der Arzt unsere Patientenakte einsehen darf. Natürlich darf er das. Erst als diese Schritte abgeschlossen sind, können wir unsere Buchung bestätigen. Alles dauerte nur etwas mehr als eine Minute. Es ist 16.13 Uhr und wir beginnen zu warten.
Die Bestätigung zeigt den Anlass für den Arzttermin, die erwarteten Kosten von 30 bis 51 Euro sowie den Namen des Arztes, der uns gleich anrufen soll: Ein Internist aus Berlin-Reinickendorf. Kurz vorher erhalten wir eine Bestätigung des Termins per SMS: Wir sollen uns bitte anmelden, der Arzt werde uns anrufen. Wir sollen uns auf das Gespräch vorbereiten und sicherstellen, dass wir eine gute Internetverbindung haben, der Akku aufgeladen ist und Benachrichtigungen aktiviert sind.
16.18 Uhr – zwei Minuten vor dem Termin – ruft uns der Arzt über die App an. Es ist ein holpriger Gesprächsbeginn: Der Verbindungsaufbau braucht eine Weile, Bild- und Tonqualität sind anfangs mangelhaft. Das Bild hängt und der Ton wird von einem metallischen Echo gestört. Der Arzt versucht, die Identität unserer Testpatientin abzufragen, scheitert aber an der schlechten Verbindung. „Ich kann Sie nicht sehen“, sagt er. „Ich lege auf und rufe Sie nochmal an.“ Wenige Sekunden später klingelt es erneut, von da an ist die Leitung stabil.
Der Arzt ist ausgesprochen freundlich und fragt die Sachen, die wir vorher per Häkchen bestätigt haben, erneut ab. Darauf baut das Beratungsgespräch auf: Er fragt unsere Testpatientin, ob sie Blut im Urin hat, ob der Urin anders riecht, ob sie Medikamente nimmt oder Allergien hat. Blut und Geruch bejaht unsere Patientin, bei den Medikamenten verneint sie. „Sie sind ja eine junge Frau, klar sind sie gesund“, scherzt der Arzt. „Gesünder als ich.“ Er verordnet das Antibiotikum Azithromycin 500 mg, drei Tabletten. Unser Testpatientin wirft ein, dass sie schon einmal „so ein Pulver zum Einrühren und Trinken“ gehabt und ihr das sehr geholfen habe. Daraufhin verordnet er ihr zusätzlich Monuril-Pulver und gibt ihr die Tipps, sich warm einzupacken und so viel wie möglich zu trinken. Wenn sie die beiden Arzneimittel wie besprochen einnehme, müsste sie „für diesen Winter durch sein“.
Nun geht es ans Eingemachte: Unsere Patientin fragt ihn, wie das jetzt mit dem Rezept und dem Arzneimittel funktioniert. „Sie kriegen das Rezept über die Plattform“, sagt der Mediziner. Sie solle sich keine Sorgen machen, das sei von der Bundesdruckerei zertifiziert und alles rechtlich einwandfrei. Über die technischen Details scheint er nicht ganz im Bilde, weist aber darauf hin, dass sie sich ihre Apotheke selbst aussuchen könne. Unsere Patientin bohrt nach. Ob wir denn nicht vorher abfragen können, ob eine Apotheke das auf Lager hat, will sie wissen. „Sind sie gerade in Berlin?“, fragt er. Offensichtlich kann er die Adressdaten sehen. „Bei mir hier um die Ecke in Reinickendorf ist eine Apotheke, wo sie direkt hingehen könnten“, empfiehlt er. Doch wir sind am Potsdamer Platz in Mitte, 12 Kilometer entfernt.
Also bohrt sie nochmal nach. Man könne doch in der App auch über DocMorris bestellen, wendet sie ein. Prinzipiell ja, in Berlin würde DocMorris auch meist schon am nächsten Tag liefern, manchmal sogar noch am selben. Das könne er aber nicht garantieren. „In ihrem Fall wäre es eher nicht angebracht, online zu bestellen“, rät der Arzt. „Ich würde nicht bis morgen warten mit dem Pulver. Nehmen Sie es lieber gleich heute, damit Sie gut durch die Nacht kommen.“ Sobald das Gespräch beendet sei, könne unsere Patientin in der App die nächste Apotheke aussuchen und das Arzneimittel dort abholen. Aber Vorsicht: „Leider ist das in Deutschland ganz neu und manche Apotheken zieren sich noch.“ Er wird Recht behalten.
Zum Gesprächsende muss er noch ein paar Sachen für die Statistik abfragen, nämlich welchen Beruf die Patientin ausübt und wie sie auf das Angebot aufmerksam geworden ist. Er verabschiedet sich bemerkenswert herzlich, wünscht ihr „gute, gute, gute Besserung und alles, alles Liebe“. Es ist 16.26 Uhr und wir sind mit dem Arztgespräch durch. Jetzt geht es um die Apotheke – und es wird kompliziert.
Doch erst einmal müssen wir warten – nämlich bis er uns das Rezept in die App schickt. Es dauert exakt eine Viertelstunde. 16.41 Uhr erhalten wir eine Nachricht: „Ihr Rezept“. Unter einem Foto des Arztes und einer Begrüßung steht in einem blauen Kasten buchstabengetreu:
Heute MONURIL PULVER einmalig in viel Flüssigkeit AB MORGEN AZITHROMYCIN 500mg 1x1 TÄGL. Für 3 TAGE Alles Alles Gute und Gute Besserung
„So sieht also ein E-Rezept aus“, sagen wir sarkastisch. Unter dem „Rezept“ steht ein Hinweis: „Wählen Sie jetzt über Kry die Apotheke aus, in der Sie Ihr Medikament abholen möchten. Dort wird es in Kürze für Sie bereitstehen.“ Am unteren Ende des Bildschirms befinden sich dazu zwei große Felder: „Apotheke vor Ort wählen“ und darunter „DocMorris“. Wir wollen versuchen, unser Rezept einer Vor-Ort-Apotheke zukommen zu lassen.
Welche das ist, sollte man aber am besten schon vorher wissen: Wir sollen nämlich den Namen und die Adresse der Apotheke eingeben, bei der wir das Medikament abholen wollen. Und wenn wir das nicht wissen? „Du kannst Google Maps oder Apotheken.de nutzen, um nach einer Apotheke vor Ort zu suchen.“ Also tun wir das. Wir gehen auf Apotheken.de und suchen uns in der Karte die nur einige hundert Meter entfernte Apotheke am Leipziger Platz aus.
Tippt man auf sie, öffnet sich in der Karte in kleines Fenster mit Name, Adresse und vier Buttons: Öffnungszeiten, Anruf, E-Mail und Website. Darunter, so groß wie die vier vorherigen Buttons, zusammen: „Medikament reservieren“. Jetzt kann es ja nicht mehr lange dauern. Wir tippen auf „Medikament reservieren“ – und werden einfach nur auf die Homepage der Apotheke weitergeleitet. Wir versuchen es nochmal und nochmal, aber erhalten immer dasselbe Ergebnis.
Also versuchen wir andere Apotheken in der Nähe – und haben dasselbe Resultat. Aber wir wollen eine Apotheke in der Nähe! Also gehen wir ein Fenster zurück und geben Name und Adresse der Apotheke händisch ein. Wir tippen auf „bestätigen“ – und landen wieder auf der Seite mit dem „Rezept“. Auch hier versuchen wir es mehrmals und erhalten immer dasselbe Ergebnis. Und nun?
Wir schauen weiter in der App herum, versuchen unterschiedliche Buttons, doch es hilft nichts. Mittlerweile ist es kurz nach 17 Uhr und wir wissen nicht mehr weiter. Also rufen wir den Kry-Support an. Nach wenigen Sekunden Wartezeit meldet sich eine Frau, der unsere vermeintliche Patientin das Problem erklärt. „Oh, das ist natürlich nicht gut“, antwortet sie. „Sagen Sie uns doch, in welcher Apotheke Sie das Arzneimittel abholen wollen. Ich rufe dann da an und frage nach, ob es vorrätig ist.“ Und wie kommt das Rezept dann in die Apotheke? „Da es das E-Rezept in Deutschland noch nicht gibt, haben wir ein spezielles Format“, antwortet die Servicemitarbeiterin geheimniskrämerisch. Sie werde sich um alles kümmern und dann zurückrufen.
Wir warten und versuchen derweil die Gegenprobe: Wir klicken auf „DocMorris“. Sofort öffnet sich eine weitere Seite, auf der Name, Telefonnummer und Adressdaten schon eingetragen sind – das mussten wir ja zur Anmeldung ohnehin tun. Wir sollen die Daten bestätigen und so die Bestellung bei DocMorris anfordern. Es sind genau zwei Klicks. Allerdings steht auch hier eine Warnung: „Falls du dein Medikament heute brauchst, geh zurück und wähle eine Apotheke vor Ort.“
Eine Stunde später erhalten wir einen Anruf von einer Handynummer. Die Servicemitarbeiterin meldet sich zurück und entschuldigt sich, dass es so lange gedauert hat: Die Apotheke habe sich quergestellt und wolle das Rezept nicht annehmen. „Warum das denn?“, wollen wir wissen. „Manche Apotheken sind noch nicht so weit und dem trauen dem Ganzen nicht“, sagt sie. Deshalb habe sie eine andere Apotheke ganz in der Nähe herausgesucht und ihr Rezept dorthin geschickt. Dort können wir das Arzneimittel jetzt abholen. Also machen wir uns auf den Weg.
„Hallo, Sie müssten ein Rezept von mir haben“, sagt unsere Patientin in der Apotheke zur Begrüßung. Die Apothekenmitarbeiterin fragt, ob es per Fax oder per Post kam. „Ich habe über eine App verschreiben bekommen“, antwortet sie – und erntet einen verwirrten Blick. Die Mitarbeiterin fragt nach dem Namen und verschwindet nach hinten, um „etwas nachzuschauen“. Drei Minuten bleibt sie verschwunden. Sie kommt mit den beiden Medikamenten und zwei bedruckten DIN-A4-Blättern zurück und bittet um Geduld: „Meine Kollegin kommt gleich und zeichnet das Rezept ab.“ Es handelt sich um zwei Faxe – das ausgedruckte Privatrezept und einen Infoflyer für die Apotheke, beide von einer schwedischen Telefonnummer verschickt. Das Rezept enthält eine Sign-Me-Signatur der Bundesdruckerei, ausgestellt vom Arzt.
Der Infoflyer erklärt den Apothekenmitarbeitern, was ihnen gerade widerfährt: „Liebe Apotheke, Sie haben nach telefonischer Absprache gerade ein Privatrezept von einem Arzt bei Kry per Fax erhalten, vielen Dank für Ihre Kooperation.“ Der Patient erscheine bald zur Abholung der Medikation. „Bitte unterschreiben und stempeln Sie das Rezept nach Bezahlung, damit der/ die Patient/in es zur Erstattung einreichen kann.“ Dass die Apotheken dem Braten nicht ganz trauen, hat man bei Kry antizipiert: „Sie sind sich nicht sicher, ob das Rezept gültig ist?“ Mit ein paar Infos soll den Apothekern die Angst genommen werden: Das Rezept wurde im Rahmen einer Videosprechstunde von einem approbierten Facharzt ausgestellt. „Kontaktieren Sie uns gern, um den Arzt direkt zu sprechen.“
Kurz darauf erntet unsere Patientin den nächsten verwirrten Blick: „Und was soll ich jetzt damit machen?“, fragt die mittlerweile hinzugekommene Apothekerin. Sie solle das abzeichnen, so unsere vermeintliche Patientin. Wieder ein verwirrter Blick, diesmal auf die Zettelwirtschaft. Auch sie will wissen, wo das Rezept herkommt. „Das hatten wir so noch nicht.“ Mit einem scharfen Blick über den HV-Tisch erspäht unsere Patientin, dass die Pharmazeutin erst einmal „Kry“ googelt. „Das ist ja nur eine Kopie“, sagt sie mit Blick auf das Rezept.
Sie will auf Nummer sicher gehen und fragt unsere Scheinpatientin ein wenig aus: Wo sie denn versichert ist, will sie wissen – obwohl das gar keinen Unterschied macht. Sie hält eine der beiden Packungen über den Tresen und beginnt ein kleines Quiz: „Das hier ist ein Antibiotikum gegen…?“ Unsere Patientin ist ein wenig verdutzt, aber vervollständigt den Satz: „Blasenentzündung.“ Die Apothekerin nickt. „Und diese Packung hier?“, hakt sie nach. „Ähm, auch Blasenentzündung.“ Volle Punktzahl.
Kurz nach halb sieben geht unsere Patientin mit ihren beiden Medikamenten aus der Apotheke. Bilanz: Ohne wirklich krank zu sein hat sie innerhalb von zweieinhalb Stunden mit einem Arzt gesprochen, ein Rezept erhalten und ihre Arzneimittel in der Apotheke abgeholt. Für das Arztgespräch fallen 32,62 Euro an, für die Arzneimittel nochmal 31,78 Euro – beides kann sie sich als gesetzlich Versicherte (noch) nicht erstatten lassen. Und die zweieinhalb Stunden beinhalten bereits eine Stunde Warten auf den Rückruf vom Support.
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