„Eigentlich ist das nur noch eine Hobby-Apotheke“ Tobias Lau, 09.12.2018 16:16 Uhr
Thomas Meyer-Weyermann gehört zu einer anscheinend aussterbenden Art: Er ist Berliner Kiez-Apotheker. Lange hat er es entgegen aller widrigen Umstände ausgehalten und sich ohne große Verluste in den Ruhestand gerettet – und ohne seine Mitarbeiter unter den schwierigen Bedingungen leiden zu lassen, wie er betont. Einen Nachfolger für seine Falken-Apotheke in Kreuzberg hat er trotzdem nicht gefunden. Dennoch, er hat seinen Frieden mit der schwierigen Situation geschlossen.
Kreuzberg ist fast schon ein Synonym für Gentrifizierung: Vom heruntergekommenen Gastarbeiterdistrikt hat sich das Viertel im Herzen der Hauptstadt zum hippen Trendkiez entwickelt – mit allen Verwerfungen, die das mit sich bringt. Wohl dem, der einen alten Mietvertrag hat und von den steigenden Preisen nicht betroffen ist. Dieses Glück hat Apotheker Meyer-Weyermann, seit 1983 Inhaber der Falken-Apotheke. Was für Berliner Verhältnisse schon eine kleine Ewigkeit ist, ist für die um 1870 gegründete Apotheke nur der letzte Lebensabschnitt. Denn am 15. Dezember schließt die 150-jährige Offizin zum letzten Mal.
Gewollt hat Meyer-Weyermann das freilich nicht. „Seit einem Jahr hatte ich einen Nachfolger gesucht und tatsächlich haben sich auch einige Kollegen beworben“, erzählt er. „Ich hatte auch schon einen aus meiner Sicht geeigneten Kandidaten. Aber nachdem dann die Finanzberater die Unterlagen durchgeschaut haben, haben sie ihm abgeraten.“ Übel nehmen will er das aber niemandem. „Eigentlich ist das ja in den letzten Jahren auch eher eine Hobby-Apotheke. Zumindest hätte man nicht mehr von ihr leben können“, sagt er, ohne dabei auch nur ein bisschen vergrämt zu klingen. „Meine Frau und ich hatten das Glück, dass sie schon eine gute Rente bezogen hat und unser Lebensstandard mit Mietwohnung und kleinem Auto nicht allzu hoch ist. Den konnten wir deshalb gut halten.“
Doch das war nicht immer so. Als es Kreuzberg schlechter ging als heute, ging es seiner Apotheke noch besser. Anfang der 80er, als die marode Nachbarschaft Südost 36 noch auf drei Seiten von der Mauer umgeben war und sich Punks und flüchtige Kriegsdienstverweigerer hier sammelten, um unsanierte Altbauten zu besetzen. „Direkt neben uns, in der Reichenberger Straße 63a, war eines der bekanntesten besetzten Häuser West-Berlins. Das waren alles unsere Kunden“, erinnert er sich. „Man kann ja über die Hausbesetzerszene denken, wie man will, aber am Ende hatten sie recht. Ohne die wäre hier viel mehr abgerissen statt saniert worden.“
Waren die 80er schon eine gute Zeit für ihn, wurde es nach der Wiedervereinigung noch besser. „Der Mauerfall war ein unglaubliches Ereignis, wir sind abends ins Bett gegangen und in einer anderen Welt wieder aufgewacht“, erinnert er sich. So wie das marode Berlin nach der Wende aufblühte, ging es auch mit seiner Apotheke bergauf. Gegenüber zog eine Schwerpunktpraxis für HIV-Patienten ein – zu einer Zeit, als es weder Fixzuschlag noch Deckelung des preisdegressiven Honorars gab und Hochpreiser entsprechend lukrativ waren. „Das war ein warmer Goldregen“, erinnert er sich. „Wenn da zwei, drei am Tag aus der Praxis in die Offizin kamen, klingelte die Kasse.“ Vor allem aber konnte er mit seiner Apotheke enge Bindungen zu den Patienten aufbauen. „Nach einer Weile kannten wir ja viele aus der HIV-Praxis und haben zu ihnen ein vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut.“
Ein entsprechend schwerer Schlag war es, als die Praxis kurz nach der Jahrtausendwende wegzog. „Ab da haben wir um jeden Stammkunden kämpfen müssen. Zum Glück kannten wir ja viele der Patienten sehr gut und konnten unsere Situation erklären.“ Und dann kam 2004 das GKV-Modernisierungsgesetz, mit dem der Fixzuschlag und die Deckelung Honorars eingeführt wurden. Die Hochpreiser der verbliebenen HIV-Stammkunden brachten ab da auch nicht mehr viel ein.
Gleichzeitig veränderte sich das Viertel um seine Apotheke, statt alternativer Lebensentwürfe dominierten zunehmend junge Familien mit Kindern – und Touristen. „Wenn jemand reinkommt, rechnet man mittlerweile damit, auf Englisch angesprochen zu werden. Aber das ist kein Problem, mit meinem Schulenglisch komme ich da eigentlich immer weit genug.“ So wie mit dem sozialen Wandel die Lebenshaltungskosten stiegen, sank die Zahl der kleinen Kiez-Apotheken um ihn herum. Erst Anfang November schloss direkt um die Ecke sein umstrittener Kollege Andreas Kersten. Laut Zahlen der ABDA ist die Apothekenzahl in Berlin in den letzten Jahren doppelt so schnell gesunken wie im bundesdeutschen Durchschnitt. Gab es zum Jahresende 2015 noch 854 Betriebsstätten, waren es zwei Jahre später nur noch 812 – ein Minus von knapp 5 Prozent, gegenüber 2,5 Prozent bundesweit.
Meyer-Weymann sieht das als Teil einer gesamtwirtschaftlichen Evolution: „Es gibt ja eine Konsolidierung in allen Bereichen, da ist doch klar, dass es auch die kleinen Apotheken trifft“, sagt er. „Natürlich ist es schön, an jeder Ecke einen Bäcker, einen Friseur und eine Apotheke zu haben, aber kleine Läden werden in Zukunft Exoten sein.“ Stattdessen werde es zu einer Konzentration in größeren Einheiten wie Schwerpunktapotheken und Ärztehäusern geben. „Für mich ist das ein natürlicher Prozess. Es ist selbstverständlich tapfer, sich dagegen zu stemmen. Aber für den Einzelnen, der noch bis zur Rente seine Brötchen verdienen muss, ist es halt auch unvermeidbar.“
Bei ihm ist das gerade noch gut gegangen. Er höre ständig von Kollegen, die den Gürtel enger schnallen müssen und das zuerst bei ihren Mitarbeitern tun. „Da wird dann erst das 13. Monatsgehalt gestrichen, dann die Urlaubstage und Löhne gekürzt und so weiter. Das habe ich nie gemacht. Unter der Situation sollten nicht die Schwächsten leiden.“ Auch bei der Schließung seien seine drei Mitarbeiter für ihn die größte Sorge gewesen. In den 35 Jahren hatte er gerade einmal etwas mehr als eine Handvoll PTA und Approbierte – entsprechend kennt er seine Angestellten auch schon seit Jahrzehnten. „Ich habe großes Glück gehabt, so tolle Mitarbeiter zu haben. Wir waren hier jahrzehntelang wie eine kleine Familie“, sagt er und wird zum ersten mal ein wenig sentimental. Umso glücklicher sei er, dass alle drei bereits eine neue Stelle gefunden haben – „alle gleich bei der ersten Bewerbung“, wie er betont.
Über seine eigene Zukunft habe er sich im Stress der Betriebsabwicklung bisher kaum Gedanken machen können. Das beginne aber jetzt, vor allem durch die Gespräche mit langjährigen Kunden. „Die lernt man durch den Zuspruch plötzlich ganz neu kennen, da kommt so eine menschliche Ebene hinein“, sagt er. „Und das arbeitet jetzt in mir. Ich frage mich: ‚Was wird, wenn du jetzt zuhause sitzt, Staub wischt, zu Edeka fährst – und nicht mehr jeden Tag den Kontakt mit Menschen hast?‘“ Allerdings: „Ich wohne ja auch nicht auf dem platten Land, wo ich in den Gesangsverein eintreten muss, um soziale Kontakte zu pflegen. Wem in Berlin die Decke auf den Kopf fällt, der ist schließlich selber schuld.“