„Der Krebspatient hat nichts zu sagen“ Julia Pradel, 25.11.2015 15:23 Uhr
Das Bundessozialgericht (BSG) hat die Zyto-Retaxationen der AOK Hessen heute für zulässig erklärt. Damit haben die Richter in Kassel nicht nur das Urteil der Vorinstanz gekippt, sondern sich auch anders als das Regierungspräsidium Darmstadt positioniert. Entsprechend unerwartet kam die Entscheidung für den betroffenen Apotheker Rainer Schüler. Bei der AOK ist man hingegen höchst zufrieden.
Dr. Reimar Buchner, Fachanwalt für Verwaltungsrecht bei der Kanzlei Gleiss Lutz und Vertreter der AOK Hessen, freut sich über das Urteil: „Wir halten die Entscheidung für richtig.“ Er betont, dass die Kasse bei der Zuschlagserteilung immer die Versorgungsqualität in den Vordergrund stelle. Dabei muss aus seiner Sicht aber von der Versorgungsrealität ausgegangen werden: Schließlich seien die meisten Apotheken eben nicht im selben Haus wie der Onkologe. „Das ist nicht der Maßstab, sondern eine Sonderkonstellation, die nicht der Versorgung zugrunde liegen sollte“, findet Buchner.
Aus seiner Sicht sorgt das Urteil daher auch für Chancengleichheit zwischen den Apotheken. Schließlich werde die größte Zahl der Apotheken von Herstellbetrieben beliefert. Das Urteil hält Buchner daher für „lebensnah“. Und sein Kollege Dr. Enno Burk ergänzt, dass Apotheker Schüler sich schließlich selbst mit einem Herstellungsbetrieb um die Versorgung einzelner Losgebiete bemüht habe.
Schüler selbst war sichtlich überrascht von dem Ausgang des Verfahrens: „Ich bin davon ausgegangen, dass das grundlegende Recht auf die freie Apothekenwahl überzeugen kann.“ Für ihn geht es auch um viel Geld: In dem Verfahren selbst wurde zwar „nur“ um rund 70.500 Euro gestritten – das war aber auch nur die Retaxation für Dezember 2013.
Insgesamt sind rund 15 Apotheker in Hessen von Retaxationen betroffen, für die der Apothekerverband Einspruch eingelegt hat. Laut Berit Gritzka, Rechtsanwältin und stellvertretende Verbandsgeschäftsführerin, geht es um eine Summe im zweistelligen Millionenbetrag. „Die AOK hatte fast zwei Jahre lang eine Versorgung zum Nulltarif.“ Bislang habe die AOK nur die Gelder vom Dezember 2013 einbehalten – doch die Zyto-Verträge laufen noch bis zum Ende des Monats. Aufatmen können lediglich die Apotheken in den Losgebieten, in denen die Gewinner ihr Los bereits zurückgegeben haben.
Rechtsanwältin Dr. Constanze Püschel, die Schüler in dem Verfahren vertrat, ist überzeugt: „Der Patient und die ihn wohnortnah versorgende Apotheke sind die Verlierer, der Patient hat in der onkologischen Versorgung nun nichts mehr zu sagen.“ Patienten könnten nicht länger wählen – eine Situation, die einmalig im Sozialrecht sei. Und Apotheken seien quasi verpflichtet, gegen den öffentlich-rechtlich normierten Kontrahierungszwang zu verstoßen. Püschel ist überzeugt, dass die Entscheidung geltendem Recht entgegensteht.
Welche Folgen das Urteil für die Patienten haben wird, lässt sich zwar noch nicht absehen. Gritzka befürchtet allerdings erhebliche Nachteile in der wohnortnahen Versorgung. Und Schüler warnt vor einer Oligopolisierung und damit einhergehenden höheren Preisen. Aus seiner Sicht ist die Entscheidung daher auch unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit „kurzsichtig“.
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