„Katastrophale Bedingungen und rabenschwarze Zukunft“

Brandbrief an Abda: Kuschelkurs vernichtet Apotheken

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Berlin -

„Ist noch was zu retten oder ist der Niedergang unumkehrbar?“ Mit dieser Frage hat sich Gunther Böttrich, Inhaber der Burg Apotheke in Volkmarsen bei Kassel, kurz vor Weihnachten in einem offenen Brief an die Abda gewandt. Mit seiner schonungslosen Bestandsaufnahme will er die Apothekerschaft wachrütteln – weil er glaubt, dass es allerhöchste Zeit ist.

Böttrich sieht sich selbst als typischen Vertreter seines Berufsstands: Apotheker in dritter Generation, wirtschaftlich solide aufgestellt und prozessoptimiert mit Kommissionierautomat und eigener digitaler Sichtwahl, gleichzeitig aber mit dem allgegenwärtigen Personalmangel konfrontiert und als Inhaber mehr oder weniger im Tagesgeschäft gefangen. Vor Ort sei er stark engagiert und vernetzt, mit Berufspolitik habe er dagegen wenig am Hut: Früher habe er versucht sich zu engagieren, doch schnell habe er das Gefühl gehabt, mit seiner Meinung im eigenen Verband nicht durchzudringen und für seine Kritik und Ideen keine Rückendeckung zu erhalten. 15 Jahre sei das her.

Szenen aus dem Apothekenalltag

Und trotzdem hat er jetzt einen offenen Brief an die Abda geschrieben. Warum? Fast 30 Jahre sei er mittlerweile als Apotheker tätig – und über die Zeit hinweg sei der Berufsstand immer mehr in die Defensive geraten. Mittlerweile sei die flächendeckende Versorgung massiv gefährdet, wie er in seinem Brief anhand einiger eindrücklicher Beispiele aus dem Apothekenalltag beschreibt:

  • Im gerade zurückliegenden Nachtdienst habe ich unseren letzten Fiebersaft abgegeben. An unserem Autoschalter hören wir die kranken Kinder schreien und können nicht mehr helfen. Für Eigenherstellungen von zum Beispiel Fiebersäften fehlt uns leider das Personal und vieles mehr.
  • Apotheken benötigen für Kunden- / Patientenbesuche mit der Problematik der „Nichtlieferbarkeit“ einen erheblichen zusätzlichen Zeitaufwand für Erklärung der Situation, Suche nach Ausweichpräparaten direkt am POS, anschließende Recherche und ggf. Rücksprache mit der verordnenden Praxis. Die Bedienzeiten pro Kunde / Patient, und damit die Kosten, vervielfachen sich!
  • Eine besorgte Mutter bittet mich im Apothekennotdienst telefonisch um eine Diagnose für Ihr krankes Kleinkind, weil die Wartezeit bei der Arztnotdienstnummer „116117“ 81 Minuten beträgt.
  • Die telefonische Kontaktaufnahme mit ärztlichen Notfallpraxen „116 117“ wegen „Nichtlieferbarkeit und Substitution“ scheitert, weil die Praxen im Unterschied zu Notdienst-Apotheken nicht 24/7 besetzt sind. Patienten werden dann nach zeitintensivem Bemühen durch uns unverrichteter Dinge wieder „auf die Reise geschickt“.
  • Unser Apotheken-Team ist durch massiven Personalmangel bei gleichzeitig deutlich erhöhtem, nicht wertschöpfendem (!) Arbeitsaufkommen psychisch extrem belastet. Wir diskutieren im Team, wen wir für wie lange einmal für ein paar Stunden zum Regenerieren nach Hause schicken können. Mitarbeiter:innen machen ihren wohlverdienten Urlaub im Wissen, dass der Rest des Teams in dieser Zeit völlig am Limit ist und anschließend auch Urlaub braucht.
  • Ich kann eine junge PTA aus Osteuropa (EU) zur dringend benötigten Verstärkung unseres Teams nicht einstellen, weil die Bearbeitungszeit für die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Ausbildung beim Regierungspräsidium in Darmstadt (nach telefonischer Rücksprache) aktuell mindestens 6 bis 9 Monate dauert.
  • Urlaub zur Erholung und Erhaltung der Arbeitskraft für Apothekeninhaber:innen bedingt immer häufiger Betriebsferien, also kurzzeitige Schließungen, weil keine approbierten Vertretungen verfügbar sind. Apotheker in Festanstellungen sind häufig nur noch mit Dienstwagen, Dienstwohnung und massiv überzogenen Gehaltsforderungen zu bekommen.
  • Die überwiegende Zahl der Apotheker:innen empfiehlt ihren Kindern, einen anderen Beruf zu ergreifen. Als Apothekenleiter in dritter Generation tue ich das auch. Ich möchte, dass unsere Kinder einen Beruf ergreifen, der Freude macht und eine positive Zukunftsperspektive hat.

Was die Apothekenteams in den zurückliegenden Monaten geleistet hätten und täglich leisteten, verdiene Respekt und Anerkennung. Beides sei im politischen Diskurs aber nicht zu erkennen. „Im Gegenteil! Warum ist das so? Weil unser Berufsstand seit Jahrzehnten seinen Niedergang passiv erduldet und nicht angemessen um seinen Fortbestand kämpft.“

Gefährliches Gutmenschentum

Während die Ärzt:innen gegen eine aus ihrer Sicht zu niedrige Anhebung der Vergütung auf die Barriaden gingen, freuten Apotheker:innen sich über jeden noch so unbedeutenden und unverbindlichen Politikerbesuch in der Apotheke – und nähmen aktuell sogar eine Reduzierung ihrer Vergütung zähneknirschend hin. „Das ist unglaublich“, findet Böttrich. „Das in unserem Berufsstand weit verbreitete Gutmenschentum mag für unsere Arbeit als Heilberufler hilfreich sein. Aber grenzenlose Kompromissbereitschaft, Verzicht sogar auf berechtigte Forderungen oder Zusagen und immer wieder ‚Ja, das müssen wir so hinnehmen – es hätte ja viel schlimmer kommen können!‘ führt dazu, dass uns die wirtschaftliche Grundlage entzogen wird, um dieses heilberufliche Gutmenschentum zum Wohle der Gesellschaft weiter pflegen zu können!“

Apotheken in der Defensive

Die Leistungen der Apotheken seien in der Bevölkerung zwar weithin anerkannt. Die Versäumnisse in Sachen Öffentlichkeitsarbeit und Positionierung rächten sich jetzt aber: „Die katastrophalen Bedingungen des Apothekenalltags und die rabenschwarze Zukunftsprognose werden von der Gesellschaft und der Politik nicht wahrgenommen. Anderen Gesundheitsdienstleistern hingegen gelingt es, ihre Situation und Ihre Forderungen öffentlich darzustellen.“ Politiker müssen laut Böttrich denken: „Bei den Apotheken ist doch alles in Ordnung, die beschweren sich ja nicht (wahrnehmbar)“. Oder: „Mit den Apotheken können wir es ja machen und sie grenzenlos melken.“ Für ihn ist klar: „Man nimmt es denen, bei denen am wenigsten Widerstand zu erwarten ist. Und wenig Widerstand, das können wir Apotheker:innen gut!“

In Abda-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening habe er hohe Erwartung gesetzt – doch was könne eine einzelne Person schon erreichen? Nein, sich aus dieser Spirale zu befreien, ist aus seiner Sicht die Aufgabe des gesamten Berufsstands: „Nach meinem Verständnis haben ‚wir Apotheken‘ nicht nur für die ordnungsgemäße Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln zu sorgen. Es ist auch unsere Aufgabe, alles dafür zu tun, dass die Rahmenbedingungen stimmen, um diesem Versorgungsauftrag nachkommen zu können. Das tun wir nicht!“ Es sei haarsträubend, wie die Apotheken sich aufgestellt hätten. Dafür gebe es viele Gründe; einer davon ist aus seiner Sicht, dass die Abda die Zähne nicht auseinander bekomme und die Interessen des Berufsstands nicht kommuniziere. Die Standesvertretung ist aus seiner Sicht mit ihrer rückwärtsgewandten Denkweise „völlig auf dem falschen Dampfer“.

Zeit des Bettelns ist vorbei

Ihm geht es nicht um plumpes Abda-Bashing, wie er sagt, sondern darum, kritische Fragen zu stellen und Veränderungen anzustoßen: „Vertritt unsere Standesvertretung wirklich unseren Stand? Die Tatsache, dass die Basis sich nicht rührt und leidgewohnt erstaunlich viel hinnimmt, spricht dafür! Oder sind alle happy? Dann sollten wir weiter so machen und hätten die Konsequenzen nicht besser verdient!“ Er fragt sich, ob vielen Kolleg:innen die Konsequenzen nicht klar sind: „Fehlt ihnen vielleicht ein Stück weit unternehmerisches Verständnis und sie sind daher so passiv? Sie stemmen Tag für Tag den Apothekenalltag und strampeln im Hamsterrad immer weiter, bis sie gesundheitlich und / oder unternehmerisch ‚fertig haben‘.“

Die Zeit des Bittens und Bettelns ist laut Böttrich schon lange vorbei. „Wenn wir Apotheken unsere Forderungen (ja, Forderungen!!!) der Politik nicht mit Nachdruck vortragen, werden wir abgeschafft. Wir ‚Apotheken‘ müssen selbstbewusst sein und auftreten, um etwas zu erreichen. Andere Marktteilnehmer im Gesundheitswesen tun dies und haben Erfolg. Unser Ziel muss sein, die Institution ‚Öffentliche Apotheke‘ wieder attraktiv zu machen. Für alle derzeit ‚Aktiven‘ und, um ‚Nachwuchs‘ zu generieren.“

Der Punkt, alles weiter so hinzunehmen, sei schon lange überschritten. „Unser Kuschelkurs mit der Politik und das Verhandeln aus der Position einer grundlos selbst auferlegten Schwäche führt die Institution Apotheken in eine auf breiter Fläche existenzbedrohende Situation!“

Gemeinsam mit befreundeten Kolleg:innen, die den Brief ebenfalls unterzeichnet haben, fordert Böttrich die Abda daher auf, „wirkungsvolle Maßnahmen zu ergreifen, um der Institution der öffentlichen Apotheke eine angemessene Zukunft zu ermöglichen“:

  • Neudefinition unseres Selbstverständnisses als leistungsstarker Gesundheitsdienstleister „Positionierung der öffentlichen Apotheke“
  • Erstellung eines Konzeptpapieres mit unseren Forderungen (!). Selbstbewusster Dialog mit der Politik bezüglich dieser Forderungen zu den Rahmenbedingungen unseres Arbeitens.
  • Durchführung mehrerer tageweiser Streiks aller Öffentlichen Apotheken nach Fahrplan (nur Notdienstbetrieb) – Lieber mal einen Tag auf Einnahmen verzichten (diese zum Großteil auf Folgetage verschieben) als den kontinuierlichen Niedergang verwalten.
  • Flankierend bundesweite Aktionen Öffentlichkeitsarbeit durch Anzeigen und Pressearbeit unter Zuhilfenahme von professionellen PR-Beratern.
  • Zahlreiche gesetzliche Rahmenbedingungen gehören auf den Prüfstand und der Realität angepasst. Beispielsweise: Notdienstregelung, Öffnungszeiten-Vorgaben, Vertretungsregelungen, Ausbildungsordnung.

Mit den richtigen Themen beschäftigen

So aufrüttelnd seine Schilderungen sind, so vielen Kolleg:innen er aus dem Herzen spricht – welche konkreten Erwartungen verknüpft Böttrich mit seinem Schreiben? Das weiß er auch nicht so genau. Er hofft, dass man ins Gespräch kommt, auch auf formaler Ebene. Dass seine Botschaften bei der Abda Gehör finden und Veränderungen anstoßen. Und tatsächlich: Im Januar soll es ein Gespräch mit Overwiening geben. Sich selbst sieht er eher als Impulsgeber, der der Apothekerschaft den Spiegel vorhält. Eine aktive Rolle übernehmen will er aber auch jetzt nicht: „Ich habe kein Vertrauen in unseren Berufsstand und will mich nicht verbrennen. Aber vielleicht kann ich einen Impuls geben, dass sich die richtigen Leute endlich mit den richtigen Themen beschäftigen.“

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