Urteil zu Fernbehandlung

BGH erklärt die Dynamik der Telemedizin

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Berlin -

Fernbehandlungen durch Ärzt:innen per App sind nicht per se verboten – aber eben auch nicht generell erlaubt. Zu diesem salomonischen Schluss ist der Bundesgerichtshof (BGH) in seiner Ottonova-Entscheidung gekommen. Die Karlsruher Richter betonen in der jetzt vorliegenden Urteilsbegründung die Bedeutung der „fachlichen Standards“. Diese zu definieren, sei übrigens nicht allein Sache der verfassten Ärzteschaft. Aktuell sind die Möglichkeiten der Telemedizin nach diesem Urteil recht begrenzt, was sich laut BGH aber ändern kann.

Es geht um ein Angebot der privaten Krankenversicherung Ottonova. Die warb 2017 für einen digitalen Arztbesuch, bei dem Versicherten über eine Smartphone-App Kontakt zu Ärzt:innen der in der Schweiz ansässigen Firma „eedoctors“ aufnehmen konnten. „Erhalte erstmals in Deutschland Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App“, hieß es in der Werbung.

Die Wettbewerbszentrale sah darin einen Verstoß gegen das Werbeverbot für Fernbehandlungen. Ottonova hielt dagegen, die Fernbehandlung sei in der Schweiz schon seit Jahren erlaubt. Sie beschränke sich zudem auf die Beratung bei allgemeinen medizinischen Problemen, bei denen ein persönlicher Kontakt zwischen Arzt und Patient nicht erforderlich sei. Ottonova ist nach eigenem Bekunden nicht Anbieter des digitalen Arztbesuchs, sondern vermittelt lediglich den Kontakt zu den eedoctors, mit denen auch der Behandlungsvertrag zustande komme.

Vor dem Landgericht München I und dem Oberlandesgericht München (OLG) hatte sich die Wettbewerbszentrale jeweils durchgesetzt, am 7. Oktober wurde dann die Revision vor dem BGH mündlich verhandelt. Die Karlsruher Richter sprachen ihr Urteil am 9. Dezember. Ob eine Werbung für eine ärztliche Fernbehandlung im Einzelfall erlaubt ist, hängt laut Urteilsbegründung maßgeblich von den „allgemein anerkannten fachlichen Standards“ ab, auf die sowohl das neu gefasste Heilmittelwerbegesetz (HWG), als auch die Regelung zum Behandlungsvertrag im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 630a BGB) konkret verweisen. Diese Grundsätze seien auszulegen – und nicht etwa die von Bundesland zu Bundesland mitunter abweichenden Formulierungen der ärztlichen Berufsordnungen.

Ottonova hatte mit der Revision teilweise Erfolg, weil das in den Vorinstanzen ausgesprochene Verbot zu weitgehend. Denn abstrakte Hauptantrag der Wettbewerbszentrale bezog sich auf über eine App erbrachte Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen durch Ärzte, die im Ausland sitzen. Im konkreten Fall wird die Fernbehandlung laut Ottonova durch Schweizer Ärzte erbracht, die erfahrene Allgemein- oder Notfallmediziner seien und einem hochqualifizierten Ärzteteam angehörten. Zumindest seien daran keine Zweifel geäußert worden, so der BGH. Der Versicherer habe auch nicht pauschal damit geworben, dass den Versicherten für jedes Leiden ohne Weiteres ärztliche Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen per App angeboten werde. Aus dem Beispiel in der Werbung ergebe sich vielmehr, dass ein Patient zunächst Kontakt zu einem Concierge aufnimmt, der gegebenenfalls den erforderlichen Zugangscode erhält. Der BGH geht nicht davon aus, dass hier Zukunft Patienten direkt Kontakt zu einem Arzt aufnehmen könnten.

Zwar wurde das HWG mit dem Digitale-Versorgungs-Gesetz mit Wirkung vom 19. Dezember 2019 zwischenzeitlich geändert, so dass eine Fernbehandlung unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist. Aber in § 9 HWG steht eben die Einschränkung, „wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist“. Das wurde laut BGH in den Vorinstanzen zu wenig gewürdigt.

Das OLG hatte sich auf den Beschluss des 121. Deutschen Ärztetages bezogen, mit dem in der Muster-Berufsordnung die Fernbehandlungen aufgenommen wurde. Der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient im Rahmen einer physischen Präsenz werde aber weiterhin als „Goldstandard“ angesehen. Das OLG war daher davon ausgegangen, dass grundsätzlich jeder Krankheitsverdacht nach allgemeinen fachlichen Standards eine Basisuntersuchung erfordere.

Das geht dem BGH zu weit. Der Gesetzgeber sei mit der Neufassung des HWG „von einem dynamischen Prozess ausgegangen […], in dem sich mit dem Fortschritt der technischen Möglichkeiten auch der anerkannte fachliche Standard ändern kann. Und diese seien eben nicht in der Berufsordnung definiert, sondern mit Blick auf die vom Arzt zu erfüllenden Pflichten aus einem medizinischen Behandlungsvertrag auszulegen, also mit dem BGB. „Bei der Bestimmung der anerkannten fachlichen Standards können sowohl die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften als auch die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß §§ 92, 136 SGB V Berücksichtigung finden“, so der BGH. Mit anderen Worten: Wenn solche Standards definiert sind und eingehalten werden, ist auch eine Fernbehandlung beziehungsweise die Werbung dafür zulässig.

Eine ausschließliche Fernbehandlung sei damit erst in jüngerer Zeit und auch nur im Einzelfall zulässig geworden. Denn nur in wenigen Fällen dürften überhaupt schon einschlägige Fernbehandlungsrichtlinien existieren, die den Anforderungen an einen anerkannten fachlichen Standard aus dem Behandlungsvertrag entsprechen. Der Gesetzgeber habe selbst „eine gewisse Übergangszeit in Rechnung gestellt. Dies sei angesichts des hohen Schutzguts auch gerechtfertigt, kommentieren die Richter.

Ottonova hatte noch vorgebracht, dass ohne definierte fachliche Standards zumindest eine Erstanamnese von „Alltagsleiden“ wie grippalen Infekten, Verdauungsbeschwerden, oder Hauterkrankungen zulässig sein müsse. Doch dem BGH war schon der Begriff „Alltagsleiden“ ist „schillernd“. Ohne Leitlinie fehle der medizinische Bezug, ob ein solches Leiden allein mithilfe von Kommunikationsmitteln diagnostiziert und behandelt werden kann oder ob noch beispielsweise ein Abtasten oder Abhorchen benötigt werde, um etwa einen grippalen Infekt von einer Covid-19-Infektion, ein Verdauungsproblem von einem Blinddarmdurchbruch oder eine Hautreizung von Hautkrebs zu unterscheiden.

Die Ottonova Werbung sei jedenfalls nicht auf Fernbehandlungen begrenzt, für die nach allgemeinen fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist. Daher war die Werbung in dieser Form unzulässig. Der BGH hat in seiner Entscheidung aber den Weg gewiesen, unter welchen Bedingungen aus seiner Sicht eine Fernbehandlung zulässig ist.

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