AvP-Pleite: Alles hängt am Kassenabschlag Alexander Müller und Patrick Hollstein, 13.11.2020 13:10 Uhr
Ein schwarzes Konto bei der Sparkasse Düsseldorf, eine chaotische Buchführung und jahrelange Verluste – das Gutachten des AvP-Insolvenzverwalters Dr. Jan-Philipp Hoos seziert die Probleme, die das private Rechenzentrum in die Knie gezwungen haben. Weil dabei der Kassenabschlag eine zentrale Rolle spielt, richtet die Hoffnung der AvP-Apotheker sich jetzt ausgerechnet auf die Krankenkassen.
AvP wurde lange Zeit von Rolf Clemens geführt, bis er im April dieses Jahres gehen musste. Er war nicht nur Geschäftsführer bei AvP, sondern auch bei der Schwesterfirma Dialog im Gesundheitswesen (DIG). Laut Hoos‘ Bericht wurde immer wieder Geld auf ein von der DIG geführtes Konto bei der Düsseldorfer Sparkasse überwiesen, das aber weder bei dieser Gesellschaft noch bei AvP in den Büchern war. Vielmehr hatte auch die Sparkasse den Verdacht, dass Clemens das Konto für private Zwecke benutzte. „Bei dem betreffenden Konto handelte es sich also offenbar um eine ‚schwarze Kasse‘“, vermerkt Hoos in seinem Bericht. Die Bank selbst hatte im August 2018 Anzeige wegen Geldwäsche gestellt, daraufhin hatte AvP im April 2019 die Staatsanwaltschaft im Haus, doch offenbar wurde Clemens zu diesem Zeitpunkt noch gedeckt.
1,8 Millionen Euro zwischen 2009 und 2018 sind nach Informationen des Insolvenzverwalters auf das Konto bei der Düsseldorfer Sparkasse geflossen. 1,6 Millionen Euro soll Clemens für „private Zwecke“ entnommen haben, bis das Konto im August 2018 aufgelöst wurde. Durch nachträglich abgeschlossene Darlehensverträge sei versucht worden, das zu vertuschen, schreibt Hoos. Zwar soll AvP-Eigentümer Mathias Wettstein im laufenden Verfahren Clemens die alleinige Schuld zugeschoben haben. Dass er aber nichts davon gewusst haben soll, widerspricht Berichten von Insidern sowie sichergestellten E-Mails. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen beide.
Die mutmaßliche Untreue ist aber nicht der eigentliche Grund für die Pleite des Rechenzentrums. Das weitaus größere Problem war die Buchhaltung. Das Gutachten spricht von „strukturellen Defiziten“ und einer „chaotischen Akten- und Datenlage“. AvP hat demnach seit Jahren defizitär gearbeitet: In den vergangenen Jahren fehlten demnach jeweils rund vier Millionen Euro – was aufgrund des Finanzpolsters lange verschleiert werden konnte. Auch der Aufbau des Krankenhausgeschäfts, bei dem das Rechenzentrum nicht in Vorleistung gehen musste, habe ausreichend Liquidität gebracht, so Hoos.
Dabei hätte es das Unternehmen laut Gutachten selbst in der Hand gehabt, die eigene Ertragslage zu verbessern. Denn offenbar wurden mindestens seit 2013, vielleicht sogar schon seit 2009, keine Kassenabschläge („Rabattverfall“) mehr in Rechnung gestellt, wenn Kassen die Forderungen aus der Abrechnung nicht innerhalb der vorgegebenen Frist von zehn Tagen beglichen. „Möglicherweise war es dem Unternehmen mit seiner unzureichenden Buchhaltung schlicht nicht möglich, die Ansprüche ordentlich aufzuarbeiten.“
Genau darum wird es nun im Insolvenzverfahren gehen. Hoos hofft, dass er bis zu 137 Millionen Euro eintreiben kann – in diesem günstigsten Fall stünden sich dann unter dem Strich Forderungen von 544 Millionen Euro und Verbindlichkeiten von 594 Millionen Euro gegenüber, das Delta entspricht in etwa den aufsummierten Verlusten der vergangenen Jahre. Als Untergrenze gibt der Insolvenzverwalter für den Posten des Rabattverfalls eine Summe von 37 Millionen Euro an. Je nach Erfolg fehlen also zwischen 50 und 150 Millionen Euro, um die Gläubiger zu befriedigen.
Allerdings kann Hoos selbst noch gar nicht abschätzen, wie viel Geld er tatsächlich von den Krankenkassen zurückbekommt. Er geht zwar von einem signifikanten Betrag aus, zumal es offenbar zum Geschäftsmodell einiger Kassen gehört, den Kassenabschlag quasi als Skonto zu ziehen, aber trotzdem nicht immer pünktlich zu bezahlen. Aufgearbeitet ist bis jetzt aber erst das Jahr 2016, und von den gestellten Forderungen ist bislang nur wenig tatsächlich eingegangen. Auch die Kassen sind mit Zahlungen an AvP derzeit zurückhaltend und wollen erst eine endgültige Klärung abwarten.
Die für die Insolvenzmasse am Ende entscheidende Frage wird sein, ob diese Ansprüche gegenüber den Kassen tatsächlich wirksam sind oder sich zumindest teilweise nur aus der chaotischen Buchhaltung bei AvP ergeben. Ein Insider hatte gegenüber APOTHEKE ADHOC berichtet, dass der damalige Wirtschaftsprüfer Dr. Landwehrmann ein Audit der Abrechnungs- und IT-Systeme angefordert hatte. Der Fokus sollte auf der Rabattverfallabrechnung liegen. Denn es bestand der Verdacht, dass der Rabattverfall systematisch zu hoch bilanziert wurde. Der Bericht an Landwehrmann wurde dem Insider zufolge auf Anweisung von Wettstein jedoch geschönt, der Wirtschaftsprüfer legte Ende 2019 sein Mandat nieder. Irgendwann zu dieser Zeit hat sich ein Whistle Blower auch erstmals anonym an die BaFin gewandt.
Die neuen Wirtschaftsprüfer von Greis & Brosent legten nicht nur die Entnahmen von Clemens offen, sondern auch die gefälschten Angaben zum Rabattverfall. AvP stellte den Konsortialbanken im Juli eine Neuordnung des Geschäftsbetriebs vor und bat, die Kreditlinie über 245 Millionen Euro noch nicht zu kündigen. Die Banken spielten noch eine Weile mit, weil sie über einen „Globalabtretungsvertrag“ Zugriff auf die Forderungen der Apotheker gegen die Krankenkassen hatten. Die Unternehmensberatung Andersch sollte sich die Gemengelage bei AvP genauer ansehen. Die attestierte dem Rechenzentrum in einer Telefonkonferenz mit den Bankenvertretern am 3. September „ein erhebliches strukturelles Defizit“. Am Tag darauf, einem Freitag, zogen die Banken bekanntlich den Stecker – kurz nachdem die Kassen überwiesen hatten.
Die BaFin erfuhr sofort davon und verhängte zum 10. September einen Auszahlungsstopp. Der Rest ist Geschichte: Weil sich Geschäftsführer Jochen Brocher weigerte, entgegen dieser Anweisung noch an die Apotheken auszuschütten, musste er seinen Hut nehmen. Auf Wettsteins Geheiß wurden noch 183 Millionen Euro zur Auszahlung angewiesen, 127 Millionen tatsächlich an Apotheken ausgeschüttet.
Laut dem Gutachten des Insolvenzverwalters setzt sich das Vermögen demnach im Wesentlichen wie folgt zusammen:
- Firmenwert: 12 Millionen Euro
- liquide Mittel: 194 Millionen Euro; überwiegend eingefrorene Bankguthaben aus der Rezeptabrechnung: 150 Millionen Euro für Offizinapotheken, 28 Millionen Euro für Klinikapotheken und 15 Millionen Euro aus der letzten Abrechnung
- Forderungen gegenüber Krankenkassen: 338 Millionen Euro; 200 Millionen Euro aus Abrechnung mit Krankenkassen, 137 Millionen Euro aus dem Rabattverfall
Weil bei AvP keine ordentliche Debitorenbuchhaltung geführt wurde, konnte AvP gegenüber Hoos die Forderungen aus der Rezeptabrechnung nur auf 200 Millionen Euro schätzen. Mit Blick auf den Kassenabschlag prüft Andersch aktuell, was tatsächlich noch eingetrieben werden kann.
Laut Hoos war AvP sowohl zahlungsunfähig als auch überschuldet. Als freie Masse hat der Insolvenzverwalter 10,4 Millionen Euro veranschlagt, hier geht es vor allem um Erlöse aus dem Verkauf von zwei Geschäftsbereichen: Für das Hilfsmittelgeschäft hat das ARZ Haan demnach 700.000 Euro gezahlt. Der Kaufpreis für das Klinikgeschäft liegt bei 12 Millionen Euro – hier hat Hoos allerdings zunächst nur 9,5 Millionen Euro veranschlagt, da der Rest als Sicherheit zunächst auf einem Treuhandkonto verbleiben soll. Weitere 3 Millionen Euro, die Noventi erfolgsabhängig zahlen muss, hat Hoos noch nicht aufgenommen.
Als freie Bankguthaben wurden zur Eröffnung des Verfahrens nur knapp 700.000 Euro ausgewiesen – der Verkauf des Klinikgeschäfts konnte nämlich erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollzogen werden. Die oben genannten Abrechnungsgelder der Apotheken werden auf separaten Konten geführt und nicht als Kassenbestand ausgewiesen – genauso wie 500.000 Euro, die als Rücklage zur Befriedigung einzelner Gläubiger dienen.
Das Insolvenzverfahren selbst wird nach Schätzung von Hoos rund 1,5 Millionen Euro kosten. Spannend wird, ob bei Wettstein selbst noch etwas zu holen sein wird. Dessen Firma MW Aviation etwa spielt bislang im Verfahren als Debitor keine große Rolle. Da der Firmenchef hier aber offenbar nicht nur seine privaten Flugaktivitäten abwickelte, sondern auch anonymisierte Rezeptdaten verkaufte, könnte Hoos überlegen, sich doch noch Zugriff zu sichern. Allerdings kann er nach eigenen Angaben die Bonität noch gar nicht einschätzen.