Droht die nächste Fälschungswelle? Lothar Klein, 24.03.2016 12:25 Uhr
Knapp zwei Jahre ist es her, dass die Apotheken beinahe im Wochentakt ihr Generalalphabet auf gefälschte Arzneimittel durchsuchen mussten. Über Zwischenhändler und Reimporteure waren Präparate in die legale Lieferkette gelangt, die zuvor in Italien gestohlen worden waren. Jetzt droht Deutschland möglicherweise die nächste große Welle: Nach Informationen von APOTHEKE ADHOC wurden in Italien wieder erhebliche Mengen hochpreisiger Arzneimittel aus einer Krankenhausapotheke gestohlen. Die Reimporteure sind zuversichtlich, dass sich der Schaden dank der frühzeitigen Information diesmal in Grenzen hält. Die Aufsichtsbehörden mahnen dennoch zu erhöhter Aufmerksamkeit.
Ende Februar waren in einer Krankenhausapotheke Medikamentendiebstähle in größerem Umfang entdeckt worden. Nach Informationen aus anderen Quellen könnte es sich auch um ein gemeinsames Zentrallager mehrerer Kliniken gehandelt haben.
Die italienische Aufsichtsbehörde AIFA informierte die Behörden in den anderen EU-Staaten im Rahmen des Frühwarnsystems am 1. März über die Probleme. Am 17. März ging eine zweite Meldung ein; diesmal ging es um Diebstähle, die offenbar bereits Anfang Januar in der Krankenhausapotheker der mittelitalienischen Kleinstadt Camerino entdeckt wurden. Es sei nicht auszuschließen, dass die gestohlene Ware auf illegale Weise in die normale Lieferkette zurück gelangen könne, heißt es in der Meldung aus Rom.
Die Liste enthält überwiegend hochpreisige Präparate wie Avonex, Cipralex, Copaxone, Edurant, Enbrel, Gilenya, Humira, Invega, Leponex, Remicade, Simponi, Stelara, Stivarga, Sutent, Tasigna, Tecfidera, Viread, Vortient, Volibris, Xtandi, Xgeva und Zytiga. Aber auch häufig abgebene Präparate wie Lantus, Risperdal, Seroquel, Tavor, Zyprexa und Zoloft wurden offenbar entwendet. Dazu kommen aus der zweiten Meldung Präparate wie Avastin, Exjade, Herceptin, Humalog, Novorapid, Prolia und Mabthera. Insgesamt hat die Liste 86 Einträge.
Wie viele Packungen gestohlen wurden, ist nicht ganz klar: Eine Liste führt zu den betroffenen Chargen die jeweiligen Einzeldosen auf, die andere bezieht sich auf die Anzahl der Verkaufseinheiten. Von einigen Präparaten wurden demnach nur einzelne Packungen entwendet, von anderen dagegen mehr als 50.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat die Aufsichtsbehörden der Länder bereits informiert: „Die gestohlene Ware ist in italienischer Aufmachung und könnte über den Parallelimport auch auf den deutschen Markt gelangen. Es gibt bisher keinen Hinweis, dass dies geschehen ist.“ Bundeskriminalamt und Zollkriminalamt seien informiert, heißt es in dem Schreiben.
Die zuständigen Mitarbeiter der Ministerien und Regierungspräsidien wurden aufgefordert, bei den Reimporteuren eine Überprüfung der Bestände zu veranlassen. „Wir bitten die für die möglichen Parallelimporteure zuständigen Landesbehörden um Abfrage der Information, ob ein Parallelimport nach Deutschland stattgefunden hat. Wir bitten außerdem, über regulatorische oder eigenverantwortliche Maßnahmen (Rückrufe, Quarantäne etc.) informiert zu werden“, so die Abteilung Pharmakovigilanz beim BfArM.
Die Reimporteure sind zuversichtlich, dass es diesmal keine größere Rückrufwelle geben wird. Einerseits seien die Mengen zu vernachlässigen, andererseits seien die bislang bekannten Produkte keine „typische Italienware“, sagt der Chef eines führenden Parallelhändlers. Viele der betroffenen Produkte kaufe man in anderen Märkten ein, andere seien gar nicht relevant für den Parallelhandel. Insofern sehe man den Fall relativ gelassen. „Hier wird der Hühnerhof verrückt gemacht.“
Ein Konkurrent vertritt dagegen die Ansicht, dass die Präparate durchaus auch für den deutschen Markt interessant seien und dass grundsätzlich auch diesmal die Gefahr bestehe, dass ein Teil der Packungen in den deutschen Markt gelangen könnte. Immerhin: Im Vergleich zum letzten Mal gebe es frühzeitig verlässliche Informationen, sodass ein Weiterverkauf der betroffenen Packungen zumindest in gewissem Umfang ausgeschlossen werden könne.
Vor zwei Jahren sorgten illegal nach Deutschland importierte Arzneimittel aus einem Diebstahl aus einer italienischen Klinik für Schlagzeilen. Die Medikamente waren aus einer römischen Krankenhausapotheke gestohlen worden; die Ermittlungen hatten der Polizei zufolge bereits Ende 2012 begonnen. Auslöser waren wiederholte Beschwerden von medizinischem Personal über das Verschwinden größerer Mengen von Medikamenten aus der Apotheke. Wie aus internen Unterlagen von Roche hervorging, wurden andere Medikamente offenbar schon auf dem Transport gestohlen. Mindestens 80 meist hochpreisige Präparate waren betroffen.
Informiert wurden die Behörden über die Zwischenfälle damals nicht. Erst im April 2014 fiel in Deutschland gefälschtes Herceptin auf. Aufmerksam gemacht wurden die Behörden durch einen britischen Zwischenhändler, der Fläschchen in seinem Bestand entdeckt hatte, bei denen die Chargennummern auf Flasche und Umkarton nicht identisch waren. Sein Lieferant, so stellte sich dann bei den Ermittlungen heraus, war nie von Roche beliefert worden und hatte auch andere Medikamente exportiert, bevor er Ende 2013 sein Geschäft einstellte.
Danach wurde nach und nach deutlich, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelte, sondern dass wiederholt Arzneimittel illegal in die Vertriebskette eingebracht worden waren. Von dem Diebstahl waren mehr als 40 Hersteller und Reimporteure betroffen. Orifarm musste etwa mehrere Arzneimittelchargen zurückrufen, darunter Avonex, Clexane, Copaxone, Efient, Enbrel, Humira, Inspra, MabThera, Neulasta, Remicade, Sandostatin und Xeplion. Ende Juli 2014 stellte CC Pharma alle Arzneimittel mit italienischem Ursprung unter Quarantäne – unabhängig davon, ob die Ware unter Diebstahlverdacht stand oder nicht. Auch Axicorp, Emra, Eurim, EuroPharma DK, Milinda, European Pharma und Medicopharm waren betroffen.
Die deutschen Behörden wurden damals regelrecht überrollt. Da zunächst unklar war, welche Reimporteure hierzulande überhaupt betroffen waren, wurden die Apotheken aufgefordert, ihr Generalalphabet auf die betroffenen Chargen zu durchsuchen und die entsprechenden Anbieter zu melden. Erst im Oktober 2014 teilte die AIFA mit, dass die Untersuchungen abgeschlossen seien. Alle parallel-vertriebenen Arzneimittel, die nach dem 1. Juli exportiert worden seien, seien legal, hieß es.
Dank der Lieferscheine konnten die Ermittler die Vorgänge zumindest teilweise rekonstruieren. Über Zwischenhändler in Griechenland, Lettland, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, Ungarn und Zypern wurden die Produkte an autorisierte Großhändler in Italien verkauft. Betroffen waren mindestens fünf italienische Großhändler – Farma Global, Farmaceutica Internazionale, Farmacia Cozzolino di Mario & Ciro, Farmacia della Rocca und Pharma-Trade – sowie der maltesische Händler Pharmasea. Diese hatten die Waren an Händler in Deutschland und anderen EU-Staaten weiterverkauft.
Ein Großteil der Produkte landete in Deutschland. Ein kleiner Teil ging aber auch nach Großbritannien, Italien, Polen, Schweden, Spanien, Tschechien und Ungarn sowie in die Niederlande und in die Schweiz. Roche warnte im Zusammenhang mit Herceptin auch vor Manipulationen an der Verschlusskappe und Einstichen im Gummistopfen und echten Produktfälschungen ohne beziehungsweise mit falschem Wirkstoff. In den meisten Fällen wurde die Ware aber als Fälschung eingestuft, weil sie die legale Lieferkette verlassen hatte. „Wir können bei gestohlener Ware nicht garantieren, dass die Transportkette eingehalten wurde“, sagt eine Sprecherin des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) damals. Deshalb seien solche Medikamente illegal und damit per se nicht verkehrsfähig.
Im August 2014 gab es dann erste Verhaftungen: Neben dem 80-jährigen Chef der Bande, die die Ermittler der Mafia zuordnen, wurden zwei Klinikangestellte und fünf weitere Täter in Untersuchungshaft genommen. Die Beamten gingen davon aus, dass die Täter Komplizen innerhalb des Krankenhauses und in der Apotheke hatten. Als Reaktion auf den Italien-Skandal hatten BfArM, PEI, Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die zuständigen Landesbehörden sowie BKA und ZKA beschlossen, die Zusammenarbeit in einer „Bund/Länder-Arbeitsgruppe Arzneimittelfälschungen“ zu intensivieren.