Pfusch-Prozess

Apotheker schweigt, Verteidigung fordert Freispruch APOTHEKE ADHOC, 05.07.2018 14:08 Uhr

Berlin - 

Der Prozess zum Zyto-Skandal von Bottrop ist heute mit den Plädoyers von Nebenklage und Verteidigung in die entscheidende Phase gegangen. Die Anwälte von Apotheker Peter S. fordern Freispruch und sofortige Freilassung. Das Urteil des Landgerichts Essen wird am Freitagvormittag gesprochen.

Das Recherchenetzwerk Correctiv berichtete wieder live vom Prozess. Zunächst erhielten die Anwälte der Nebenklage das Wort. Dabei ging es um die Tochter einer Nebenklägerin: Als sie nach langem Leidensweg die Nachricht erhalten habe, dass ihre Krebsmedikamente gepanscht worden seien, habe sie aufgegeben. Wenn die Beweislast erdrückend sei, habe der Angeklagte nur eine Chance, nämlich seine Geschichte zu erzählen. Das letzte Wort sei das Recht. Ein Anwalt appellierte an S., reinen Tisch zu machen. Das könne ihn selbst erleichtern und auch das Strafmaß mindern.

Es könne keinen Zweifel an der Richtigkeit der Beschuldigung geben, sagte ein weiterer Anwalt der Nebenklage. Wer wissentlich unterdosiere, der nehme in Kauf, dass der Behandlungsverlauf beeinträchtigt werde. Die Folgen einer Minderdosierung seien S. egal gewesen, damit sei ein Schädigungsvorsatz gegeben. Der Anwalt bezweifelte, dass die Möglichkeit des letzten Wortes angesichts der noch ausstehenden Zivilklage nutzen werde. Ein weiterer Kollege forderte, das Leid der Betroffenen bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen. Das Motiv für die Tat sei Habgier gewesen.

Dann erhielt die Verteidigung das Wort. Ein Vertreter der Dortmunder Kanzlei forderte Freispruch. Die Beweisaufnahme habe nichts erbracht. Die zur Last gelegenen Taten seien im Gerichtsverfahren nicht geprüft, sondern vorausgesetzt worden. Aufgrund der im Verfahren genannten Dokumentationsfehler in der Apotheke sei die Richtigkeit der Analysen der beschlagnahmten Therapien nicht nachvollziehbar und hätten somit keine Beweiskraft. Selbst wenn die Untersuchungsergebnisse aussagekräftig gewesen wären, gebe es keinen Beweis, dass der Angeklagte die vorgeworfene Tat geplant, begangen oder angeordnet habe. Es bleibe nur die Beweiskraft von 27 Therapien, von denen nicht klar sei, ob S. sie zubereitet oder freigegeben habe. Es gebe keine Gewissheit, welche Therapien von wem hergestellt worden seien.

Selbst wenn das Gericht zum Ergebnis komme, dass die beschlagnahmten Zubereitungen von S. unterdosiert gewesen seien, sei eher eine „unbewusste“ als eine vorsätzliche Tat aufgrund einer Hirnstörung nachvollziehbarer, so der Verteidiger. Der Vorwurf eines Organisationsdelikts könne nicht greifen, so der Anwalt. Es gebe keinen Hintermann, keinen Tatplan und keinen Tatablauf. Eine versuchte Körperverletzung habe nicht vorgelegen, da die beschlagnahmten Rezepturen noch nicht freigegeben gewesen seien. Auch ein vorsätzlicher Betrug der Krankenkassen sei nicht nachzuweisen. Es sei nicht bewiesen worden, welche Zubereitungen unterdosiert worden seien und welche Verstöße gegen die Hygienebestimmungen vorgelegen hätten. Der Dortmunder Verteidiger forderte Freispruch und sofortige Freilassung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft.

Nach einer kurzen Verhandlungspause ergriff der Essener Verteidiger Peter Strüwe das Wort. Auch er forderte den Freispruch des Angeklagten. Sein Mandant sei von den Medien an den Pranger gestellt worden. Die Veröffentlichung von Prozessakten sei keine Bagatelle. Der Staatsanwalt hätte die mediale Vorverurteilung bei der Strafforderung berücksichtigen müssen. Auch Behörden und Politiker hätten die Unschuldsvermutung zurückgestellt. Explizit benannte Strüwe das Bundeskanzleramt und NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU). Das Verfahren habe zur Vernichtung der Existenz und des Ansehens des Angeklagten und der Familie geführt. Als Folge leide S. unter einem Stress- und Belastungssyndrom.

Auch Strüwe sagte, die Beweisaufnahme habe die Schuld des Angeklagten nicht beweisen können. Der Vorwurf des Krankenkassenbetrugs sei nicht belegt worden, es sei noch nicht mal klar, wer geschädigt sei. Die Bedingungen für ein Organisationsdelikt lägen nicht vor. Von einer Körperverletzung könne keine Rede sein, da die beschlagnahmten Rezepturen noch nicht für die Patienten freigegeben worden seien. Auch Strüwe forderte Freispruch und Freilassung des Angeklagten.

Am Dienstag hatte die Staatsanwaltschaft 13 Jahre und 6 Monate Haft sowie ein lebenslanges Berufsverbot gefordert. Staatsanwalt Rudolf Jakubowski ging von insgesamt 60 begangenen Straftaten aus. 59 von ihnen seien Betrugsfälle, bei denen Abrechnungen mit Krankenkassen vorgenommen wurden. Auch die 27 Fälle versuchter Körperverletzung seien darin enthalten. Finanziell sei von einem Schaden von 56 Millionen Euro auszugehen, von denen jedoch drei Millionen Euro abzuziehen seien, die die Krankenkassen nach der Inhaftierung des Pharmazeuten einbehalten hatten.

Es handele sich um Verbrechen in einem „beispiellosen Umfang“, zitierte ihn Correctiv. Es sei „an Dreistigkeit kaum zu überbieten“, dass Peter S. weiterhin Zytostatika unterdosiert habe, obwohl Jahre vorher bereits wegen genau dieses Vorwurfs gegen ihn ermittelt worden sei, so Jakubowski. Der Angeklagte müsse auch für die Prozesskosten der Nebenklage aufkommen. S. habe sich zu Lasten von Menschen bereichert, „die um ihr Leben bangen“. Einen Nachweis für ein Tötungsdelikt oder einen Tötungsvorsatz könne man ihm jedoch nicht nachweisen, räumte der Staatsanwalt ein. Der erste Nebenklageanwalt schloss sich am Dienstag zwar dem geforderten Strafmaß an, sagte aber, S. habe Straftaten gegen Leben und Gesundheit begangen.

In der Sitzung am Donnerstag schlug S. die Gelegenheit zu einem letzten Wort aus. Die Urteilsverkündung ist für Freitag um 11 Uhr vorgesehen.