Apotheken droht totales Chaos Patrick Hollstein, 21.05.2011 12:58 Uhr
Wenn in zwei Wochen die neuen AOK-Rabattverträge in Kraft treten, drohen der Branche chaotische Zustände. Denn erst am 9. Mai hat das Oberlandesgericht Düsseldorf überraschend den Weg für die neuen Verträge frei gemacht. So gut wie kein Hersteller traut sich aber zu, aus dem Stand in weniger als einem Monat lieferfähig zu sein. Das Problem betrifft keineswegs nur die 24 Millionen AOK-Versicherten.
Der Start zum 1. Juni stand für die AOK von Anfang an fest. Denn die sechste Rabattrunde soll nahtlos an die vor zwei Jahren in Kraft getretenen Verträge anknüpfen. Für die Hersteller gelten aber vertraglich vereinbarte Übergangsfristen: Ab Zuschlag haben die Firmen drei Monate Zeit, die entsprechenden Vorräte anzulegen. Auch wenn die Produkte also ab 1. Juni in der Apotheken-EDV ein Rabattkennzeichen tragen, müssen die meisten Hersteller erst ab September voll lieferfähig sein. Erst dann drohen ihnen Vertragsstrafen. In den Apotheken wird es also erheblichen Erklärungsbedarf geben, denn die Umstellung hängt von der Verfügbarkeit ab.
Die Übergangsfrist gilt allerdings nicht für alle Wirkstoffe, denn Zuschläge für 28 Moleküle konnte die AOK bereits im Januar erteilen. „Scharf geschalten“ sind daher ab Juni beispielsweise die Verträge für Allopurinol, Captopril, Furosemid, ISDN, ISMN, Levodopa, MCP, Melperon, Metronidazol, Nifedipin, Quinapril, Topiramat und Verapamil.
Besonders unübersichtlich wird die Lage bei Produkten, bei denen neuen AOK-Rabattpartner auch Verträge mit anderen Krankenkassen haben. Denn dort stehen die Firmen in der Pflicht. Betapharm etwa ist nicht nur bei der AOK Exklusivlieferant für Simvastatin, sondern auch bei der TK. Dexcel muss auch TK- und BKK-Versicherte mit Amlodipin und Metformin versorgen. Lindopharm liefert Clarithromycin an DAK, KKH und mehrere Betriebskrankenkassen.
„Die Apotheker werden viel Geduld brauchen“, sagt Betapharm-Chef Michael Ewers. „Das Hauptproblem wird sein, dass die Mitarbeiter die Produkte nicht nach Kassenzugehörigkeit abgeben können. Die AOK hat schließlich vier bis fünf Mal soviele Versicherten wie die TK.“ Anders ausgedrückt: Wenn die Bestände aufgebraucht sind, weil die Apotheker die AOK-Rabattverträge bedient haben, kommen die Hersteller bei den anderen Kassen in Regress. Und die Apotheker möglicherweise in die Retax-Prüfung.
AOK-Rabattchef Dr. Christopher Hermann beschwichtigt: „Wir sind mit dem DAV im Gespräch.“ Ziel sei es, eine Lösung zu finden, die den Umstieg auf neue Vertragsarzneimittel für Patienten, Apotheken und letztlich auch Herstellerfirmen so leicht wie möglich mache. Wer für das zu erwartende Wirrwarr verantwortlich ist, steht für Hermann außer Frage: Durch „rechtliche Winkelzüge“ hätten Hersteller, die leer ausgegangen seien, den Vertragsabschluss verzögert und dadurch die Vorbereitungszeit der künftigen AOK-Partner verkürzt. „Wir werden aber gemeinsam mit dem DAV eine Regelung finden, mit der dieses Problem beherrschbar wird.“
Die Zeit drängt. Denn bei mehreren Schnelldrehern ließ sich nach dem OLG-Beschluss der Vorlauf nur noch in Tagen abzählen. Große Firmen wie Ratiopharm/Teva, Hexal/1A, Stada/Aliud und Winthrop/Sanofi geben sich zwar betont zuversichtlich, dass es zu keinen Engpässen bei den von ihnen gewonnen Wirkstoffen wie Bisoprolol, Carvedilol, Enalapril, Glimepirid, Lisinopril, Losartan, Nitrendipin, Omeprazol oder Ramipril kommen wird.
Doch hinter vorgehaltener Hand hört man in der Branche ganz andere Töne: „Das bekommt keiner hin“, sagt ein Generika-Manager, der namentlich nicht genannt werden will. „Die Mengen, die für die AOK-Verträge notwendig sind, fallen schließlich nicht vom Himmel. Und während des laufenden Vergabeverfahrens schon solche Bestände aufzubauen, wäre unternehmerisches Harakiri gewesen.“
Betapharm-Chef Ewers ist daher dieser Tage auch nicht in seinem Büro zu erreichen, sondern in der Produktion. „Es ist eine Herausforderung“, sagt er, vor allem mit Blick auf Simvastatin. Betapharm hat insgesamt für zwölf Wirkstoffe Zuschläge bekommen. Weniger Probleme gibt es laut Ewers bei vier Produkten, bei denen die Tochter des indischen Pharmaherstellers Dr. Reddy's auch in der auslaufende Runde AOK-Rabattpartner war, etwa bei Metoprolol. „Hier sieht es zumindest ab Start gut aus. Aber bei anderen Produkten, bei denen wir bislang nicht dabei waren und geringere Mengen verkauft haben, können wir nicht aus dem Stand in Rekordhöhen springen.“
Bei anderen Firmen sieht es ähnlich aus: Dexcel-Chef Dr. Mathias Pietras etwa versichert, dass es bei Amlodipin keine Lieferschwierigkeiten geben wird. Schließlich sei Dexcel bereits heute bei der AOK dabei und könne das Produkt vom israelischen Mutterkonzern beziehen. Auch bei Losartan gebe es nach dem vorsorglichen Ausbau der Produktionskapazitäten keine Probleme. Zur Situation bei Metformin wollte sich Pietras dagegen nicht äußern - zumindest solange keine Gespräche mit den Kassen geführt worden seien.
Bei Heumann/Heunet/Norispharm rechnet man damit, dass im Juni Bestellungen von Apotheken eingehen, die bei einigen Wirkstoffen den bisherigen Jahresabsatz übersteigen. Die deutschen Töchter des indischen Herstellers Torrent haben insgesamt sieben Zuschläge erhalten. Glimepirid, Vertragsarzneimittel für das Gebiet der AOK Nordost, ist derzeit allerdings noch außer Handel gelistet.
Glück gehabt hat man mit Clarithromycin und Cefuroxim bei Lindopharm: Bei den Anitibiotika falle der Start in eine saisonale Tiefphase, sagt Firmenchef Norbert Walz. „Aber wir haben auch bei Wirkstoffen mit geboten, bei denen ein solcher Kaltstart nicht möglich gewesen wäre.“