Sind wir nicht alle ein bisschen Strohmann? Alexander Müller, 14.11.2015 07:58 Uhr
Ein Heer willenloser Pharmazeuten, die ihre Apotheke artig abtreten, sobald der EuGH das Fremdbesitzverbot kippt. Diese Vision wehte in den frühen 2000er-Jahren durch die Vorstandsetagen etlicher Handelskonzerne. Doch nur die wenigsten Apotheker sind aus Stroh. Sie wollten ebenso wenig mitspielen wie die Luxemburger Richter, und die Kettenträume platzten. Als Ausläufer bleiben nur noch Scharmützel um Mietverträge und Offenhaltungspflichten – und Kassen, die sich noch immer nach willenlosen Pharmazeuten sehnen.
Was ist das eigentlich, ein Strohmann? Der angestellte Apotheker in „seiner“ Apotheke, geschenkt. Dieser Prototyp stirbt aus. Aber ist es schon ein Angriff auf die heilberuflich-kaufmännische Unabhängigkeit, wenn sich ein normaler Center-Apotheker vertraglich darauf einlassen muss, seine Apotheke unlukrativ bis spät abends geöffnet zu halten?
Was ist mit dem Inhaber, dessen komplettes Lager dem Großhändler gehört, der den Vorschuss vom Rechenzentrum zum Überleben benötigt und der seine anonymisierten Abverkaufsdaten an die Marktforscher vertickt? Der Volksmund sagt: „Jeder hält sein Stroh für Heu und des andern Heu für Stroh.“ Auch bei den Insider-geschätzt 1000 verbliebenen Untermietverträgen gibt es bis heute mannigfaltige Konstellationen. Bei Globus gibt es jetzt eine weniger.
Gehe/Celesio wickelt seine Standortentwicklungsfirma Inten seit Jahren ab, der Zug ist in Stuttgart auch ohne neuen Bahnhof abgefahren. Jetzt will der Großhändler auch in der Lieferantenbeziehung transparenter werden. Die Rechnungen sollen verständlicher werden. Details werden noch nicht verraten, eine solche Innovation lässt sich irgendwie auch schlecht vermarkten. Ob das Ganze nun dem hiesigen Wettbewerb oder Compliance-Vorgaben aus Übersee geschuldet ist, spielt für die Apotheker keine Rolle. Sie können sich freuen, dass sie künftig ihre Rechnungen leichter verstehen werden. AEP steigt derweil ins Wettrennen um Schnelldreher ein.
Ein tieferes Verständnis der entgegengenommenen Rabatte wird im neuen Jahr essenziell. Wenn der Herr Staatsanwalt mit dem Anti-Korruptionsgesetz unter dem Arm in die Offizin marschiert und sich nach Einflussnahme fragt. Bestechlichkeit im Gesundheitswesen heißt der neue Strohmann. Eigentlich sollen Bezugsentscheidungen damit nichts zu tun haben. Eigentlich. Jedenfalls dann nicht, wenn der Apotheker nicht in seiner Unabhängigkeit bedroht ist. Womit wir bei der Ausgangsfrage wären.
Der Bundestag hat das Anti-Korruptionsgesetz am Freitag in erster Lesung durchgewinkt. Jetzt gilt es, im Rechtsausschuss Stroh zu Gold zu spinnen und die Webfehler im bisherigen Entwurf zu korrigieren. Und davon gibt es ein paar. Strafrechtsexperte Professor Dr. Gerhard Dannecker etwa warnt vor einem Wild-West-Berufsstrafrecht. Und die Hersteller fürchten, dass sie als Banden immer gleich besonders schwere Fälle auslösen und deshalb überhart bestraft werden. Zumindest bangen sie um ihren guten Ruf, selbst wenn der Staatsanwalt ohne Grund geschickt wird und die Zentrale durchsucht – niemand will ein Zumwinkel-Foto von sich in der Presse.
Auch einen schlechten Ruf muss man sich erst erarbeiten. Und die DAK ist wirklich fleißig, wenn es darum geht, den Titel „Retax-Kasse des Jahres“ auch 2015 zu verteidigen. Mal wünscht sich die Kasse eine Kurzgeschichte in Reimform zur Begründung pharmazeutischer Bedenken, mal soll die Dosierung auf dem BtM-Rezept bis auf die achte Nachkommastelle genau sein. Retaxiert wird, was gefällt.
Immer wieder dabei: ein fehlendes Kreuz auf dem T-Rezept. Doch jetzt bekam die Retax-Kasse endlich mal eins auf die Finger: Das Sozialgericht Braunschweig findet es „evident inkonsequent“, gegenüber dem Apotheker so zu tun, als habe es nie ein Rezept gegeben, den Patienten aber für versorgt und weiterer Ansprüche ledig zu erklären. Das ist evident logisch argumentiert – und überlebt hoffentlich auch den Instanzenzug.
Noch schlechter verhalten sich die Kassen mitunter gegenüber ihren eigenen Versicherten. Genauer gesagt gegenüber mindestens vier Millionen Menschen, die an Inkontinenz leiden. Die Versorgung mit Einlagen und Windeln sei katastrophal, sagt Stefan Süß vom Selbsthilfeverband Inkontinenz. Das Kartell der Kassen setzt aus seiner Sicht bewusst auf Billigstanbieter, die sich an den Patienten schadlos halten können. Süß zufolge stechen einige Kassen negativ heraus: DAK, KKH, Barmer GEK und AOK Hessen. Er sieht die Apotheken in der Pflicht, gemeinsam mit den Betroffenen zu protestieren.
Manchmal hilft das sogar: Ein Apotheker hatte bei einer rückwirkenden N-Retaxation kurzerhand den Verwaltungsrat der Kasse angeschrieben. (Es war in diesem Fall zufällig die DAK.) Und siehe da: Nach zuvor erfolglosem Einspruch lenkte die Kasse plötzlich ein. Er suche grundsätzlich das Gespräch mit der Kasse, berichtet der Apotheker, da sich externe Prüffirmen oft gar nicht an die Vorgaben hielten. Was für sich genommen schon paradox bis zynisch ist.
Aber es gibt auch noch Konzerne wie Procter & Gamble, die um die positive Strahlkraft der Apotheker und ihrer Mitarbeiter wissen und im Marketing darauf setzen. Für eine Wick-Werbung gab es vor zwei Jahren sogar ein Casting: „Sie sind begeistert von Ihrem Beruf als PTA und möchten dies im Fernsehen zeigen?“ Wellnesswochenende und 4000 Euro für die Gewinnerin. Leider hatten sich die Feinheiten des Heilmittelwerbegesetzes (HWG) und einschlägigen EU-Richtlinien noch nicht bis zur Werbeagentur MSL herumgesprochen: Im Gesundheitswesen tätige Personen dürfen im Fernsehen nämlich keine Produkte empfehlen.
So wurde aus der PTA Hannelore Schnitzler im TV-Spot die „Wick-Expertin“ Hannelore S. Die Richter am Oberlandesgericht Frankfurt (OLG) nahmen jedoch gedanklich auf dem Sofa vor der Glotze Platz und bewerteten den Gesamteindruck: Eine Frau im weißen Kittel, die ein Wick-Präparat aus einem Sichtwahl-ähnlichen Regal greift und auf einen HV-Tisch-ähnlichen Tresen stellt, kommt dem durchschnittlichen aufmerksamen TV-Zuschauer während der Werbepause vor wie eine Apothekerin oder PTA – oder Edel-PTA.
Die Richter gingen wirklich ins Detail: Sie analysierten sogar die Gesamtwirkung der vermeintlichen Sichtwahl mit ausschließlich Wick-Produkte, kamen aber zu dem Schluss, dass es auch in einer richtigen Apotheke durchaus so aussehen könnte. Womit wir bei der Ausgangsfrage wären. Aber nun genug davon. Schönes Wochenende, und bleiben Sie unabhängig!