Kein Kalender: Kundin verklagt Apothekerin Alexander Müller, 26.11.2022 08:35 Uhr
„Sie heißen Elisabeth Gerhardt, geboren am 3. Januar 1987 in Meschede, verheiratet, von Beruf Apothekerin, wohnhaft in Neustadt?“ „Das ist richtig, Herr Vorsitzender.“ Nachdem die persönlichen Verhältnisse im Gerichtssaal geklärt sind, wird die Anklage verlesen. Der Apothekerin wird psychische Körperverletzung zur Last gelegt.
Das vermeintliche Opfer tritt in den Zeugenstand und wird belehrt. Es ist Sabine B., eine Stammkundin der Apotheke. Ja, sie werde die Wahrheit sagen und nichts als die Wahrheit, nichts weglassen und nichts Ausgedachtes sagen. Verwandt und verschwägert sei sie nicht mit der Angeklagten, „obwohl ich bislang immer das Gefühl hatte, das ein familiäres Verhältnis besteht“, sagt Sabine B. und kämpft zum ersten Mal mit den Tränen.
Und das war so: Seit 15 Jahren gehe sie jetzt in die Apotheke der Angeklagten. Regelmäßig, bestimmt alle zwei Wochen. „Genau alle zwei Wochen, wenn die neue Umschau da ist“, murmelt Gerhardt von ihrem Platz auf der Anklagebank, wird vom Richter aber sofort zur Ruhe ermahnt.
Und weil sie immer ihre Rezepte bringe, habe sie jedes Jahr auch einen Kalender bekommen. „Ich dachte, man bekommt Arzneimittel und eine gute Beratung, wenn man die Rezepte bringt“, sagt der Richter und schmunzelt leise. Opferzeugin B. versteht die Anspielung nicht. „Ja, ja, das auch, aber dieses Jahr gibt es halt keinen Kalender mehr. Und ich habe mich total darauf verlassen. Wie soll ich denn jetzt mein Leben planen?! Herr Richter, ich schlafe kaum noch und wenn doch, habe ich Albträume, das ist seelische Grausamkeit. ICH WILL MEINEN KALENDER!“
Der Richter mahnt erneut zur Ruhe und zitiert die BGH-Rechtsprechung: „Also eine rein psychische Empfindung genügt nicht, um einen Körperverletzungserfolg zu begründen. Von psychischer Körperverletzung sprechen wir, wenn ein pathologischer Zustand hervorgerufen wurde. Eine bloße emotionale Reaktion auf eine Aufregung ist damit noch keine Gesundheitsbeschädigung.“
Aber vielleicht könne man sich ja einigen. „Wie wäre es damit“, wendet er sich an die Angeklagte, „Sie müssen der Zeugin den Kalender ja nicht schenken, Sie könnten ihn doch gewissermaßen als Bonus dazugeben, wenn die Kundin ein Rezept einlöst.“ Er wirkt zufrieden mit seiner salomonischen Weitsicht. Aber Gerhardt schüttelt nur entgeistert den Kopf: „Rx-Boni. Hat uns ihr Kollege schon vor Jahren verboten.“ Und dann seufzt sie einmal schwer und sagt zur bekränkten Kundin: „Wissen Sie was, Sie können den Kalender haben. Und die Umschau. Und den kostenlosen Botendienst. Mal sehen wie lange noch.“ Betretenes Schweigen im Gerichtssaal.
Gerhardt könnte davon erzählen, dass ihre Software schon wieder teurer wird und die Lieferengpässe immer dramatischer. Ob Gesundheitsminister Lauterbach Letztere wirklich mit einem „Generikagesetz“ noch stoppen kann? Die Industrie freut sich, dass das Problem jetzt immerhin mal gesehen wird, mahnt aber auch zur Eile.
Doch abseits unseres fiktiven Prozesses fragen sich tatsächlich immer mehr Inhaber:innen, ob Zugaben wie Zeitung und Kalender noch zeitgemäß sind. Notwendiges Marketing oder überflüssige Ausgaben – die Branche ist gespalten. Wir haben im Podcast NUR MAL SO ZUM WISSEN über das Pro & Contra diskutiert. In der aktuellen Folge geht es auch um die Apothekerverbände, die meist weniger zimperlich sind, wenn es darum geht, den LAV-Beitrag zu erhöhen. Ein Nachschlag für das abgelaufene Jahr stößt dann aber doch in neue Dimensionen vor.
Eine zentrale LAV-Leistung, die viele Mitglieder noch bei der Stange hält, ist die Retaxabteilung. Der Verband kümmert sich um die verdächtig oft unbegründeten Rückforderungen der Krankenkassen. Leider haben Richter in echten Prozessen wiederholt befunden, dass Nullretaxationen nicht unzulässig ist.
Sie sind aber in hohem Maße ungerecht bis asozial. Und darüber wollen wir am kommenden Dienstag reden: Melden Sie sich am besten gleich an für das APOTHEKE ADHOC Webinar „Keine Dosierangabe, kein Geld. Wer stoppt den Retax-Irrsinn?“ und diskutieren Sie mit. Zu Gast sein wird unter anderem Kollegin Prochaska, die sich inzwischen fragt: „Wissen die Kassen überhaupt, was los ist in den Apotheken?“
Vermutlich nicht. Apotheken müssen sich außerdem mit Hersteller-Insolvenzen herumschlagen und Fragen zu ihrer Notstromversorgung beantworten. Die nötigen Aggregate dürfen sie sich selbst besorgen, denn kritische Infrastruktur sind offenbar nur die Kliniken. Apropos Stromausfall: Auch das Verlustrisiko bei E-Rezepten liegt bei den Apotheken. Die Gematik verweist auf die Softwarehäuser und Rechenzentren. Und was ja stimmt: Für die Sicherheit der rosa Rezepte in der Offizin haften die Apotheken auch selbst bis zur Abholung.
Noch lässt das E-Rezept in der Fläche ja auf sich warten. Zur Rose schrumpft sich in finanziell etwas gesündere Gefilde und schließt das Logistikzentrum in Bremen. Die übernommene Versandapotheke Eurapon wird eingestampft, 90 Mitarbeiter:innen sind betroffen. Mancher hat das kommen sehen.
Doch vor Ort in den Apotheken sieht es oft nicht besser aus. Zum Jahreswechsel könnte eine nie dagewesene Schließungswelle drohen. Sogar Sylt bleibt nicht verschont: Drei von ehemals acht Apotheken sind weg, die Punker konnten die Inselapotheken nicht retten. Lieber den eigenen Laden dicht machen und die letzten Jahre der Berufstätigkeit als Angestellte/r fristen, das hört man immer öfter. Zu wenig Wertschätzung und zu viel Gängelei: „Ich muss nicht selbstständig sein.“ Das ist die innere Kündigung im eigenen Betrieb und ein bedenkliches Zeichen für die politisch Verantwortlichen. Aber die scheinen nicht zuhören zu wollen und ghosten einen kompletten Berufsstand. Trotzdem: Schönes Wochenende!