„Dann fahr' ich eben selbst!“ Alexander Müller, 18.12.2021 07:36 Uhr
Karl Lauterbach, Minister Karl Lauterbach, wie nun amtlich sein Name ist, streift durch die Katakomben des BMG. Verzweiflung kriecht wie Eiseskälte in ihm hoch, Eiseskälte dringt aus den leeren Kühlkammern. „Genug Biontech-Impfstoff“ steht höhnisch auf dem Zettel an der Stahltür, doch dahinter: gähnende Leere. Dem Minister gefriert eine Träne im Augenwinkel.
Es ist der vierte Kühlraum, den er bei seiner Inventur so vorfindet. Auf dem fünften steht „Schweinehälften für Spendendinner“, Lauterbach geht angewidert weiter. Dabei hatte ihm sein Vorgänger doch so vehement versichert, die Boosterkampagne könne voll durchgezogen werden. Und jetzt das.
30 Millionen Shots sollen bis Silvester in die Arme, und im Frühjahr muss Omikron außer Landes geboostert werden. Die Apotheker:innen stehen bereit, müssen aber darauf warten, dass ihnen ihre Kammer sagt, dass sie können, was sie können. Die Ärzt:innen sind motiviert, die Impfzentren wieder aufgebaut. Nur die kleinen Fläschchen mit den lila Deckelchen – der Impfwilligen zarteste Versuchung – fehlen. Fehlen überall. Von Rationierung ist mancherorts schon keine Rede mehr. Comirnaty-Nullretax ist die Realität mancher Offizin.
Woher also das so sprunghaft begehrte Gut besorgen? Aus Polen wurde schon etwas dazugekauft, erfährt Lauterbach bei seiner Inventur. Andere EU-Länder sollen noch impfmuffeliger sein als die gespaltenen Deutschen. „Dann fahr ich eben selbst“, sagt Lauterbach entschlossen. Zum Glück hat er in den Sommersemesterferien in Harvard damals seinen Lkw-Führerschein gemacht. Also ab auf den Bock und auf Impfstofftour.
Die FDP würde in diesem Szenario vermutlich noch ein Lob dafür wollen, sich erfolgreich gegen das Tempolimit gesperrt zu haben, damit der Impfstoff noch schneller in die Verteizentren kommt. Denn Tempo braucht es jetzt – und zwar auch in Wirklichkeit. Wobei Satire und Wirklichkeit immer schwerer zu unterscheiden sind, wenn Wirtschaftswissenschaftler eine Honorarreform vorschlagen, bei der nur positive Tests vergütet werden (Achtung: Anreizsysteme) und die Nachricht „Lauterbach impft Kinder im Zoo“ über die Ticker läuft...
Politik wäre aber nicht Politik, wenn sie nicht trotz gebotener Eile etwas Zeit auf Schuldzuweisungen verwenden würde: Die SPD-Spitze schimpft über Ex-Minister Spahn (jetzt im neuem Job für Tourismus zuständig). Spahns CDU wirft Lauterbach im Gegenzug vor, nur Feuerwehrmann spielen zu wollen. Der sitzt jetzt oben in der Bundespressekonferenz und muss seine Zahlen präsentieren und deuten. Teilweise gerät die Fragerunde zur Privatsprechstunde bei Mediziner Lauterbach. Bei der Gelegenheit kündigt er seinerseits noch an, Spahns Maskendeals ebenfalls einer Inventur zu unterziehen: „Das kann nicht so stehen bleiben, deshalb werden wir das präzise nachprüfen.“ Es geht um Vertrauen. Wie recht er hat.
Dasselbe gilt für die Arzneimittelversorgung. Und da hat Lauterbach ein anderes dickes Brett zu bohren, wie wir im Ampel-Kabinett-Lobby-Podcast analysiert haben: Das E-Rezept soll nach Silvester verordnet werden. Und immer mehr fragen sich, warum der Spuk nicht wie die Knallerei um Mitternacht abgeblasen wurde. Die Rechenzentren haben sogar ein Rechtsgutachten vorgelegt. Demnach könnten die Kassen leicht versucht sein, E-Rezepte einfach nicht zu bezahlen. Der Deutsche Apothekerverband (DAV) überlegt noch, ob er sich wirklich E-Rezept-ready fühlt, Abda-Vize Mathias Arnold schwant nun aber, dass man die Kolleg:innen vielleicht doch ins offene Messer rennen lässt.
Zum Glück gibt es die Ärztelobby: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) beruft sich auf heilberufliche Notwehr und zieht dem E-Rezept den Stecker. Wenn die Apotheke um die Ecke Sorgen wegen der Abrechnung hat, bekommt sie vorerst einfach weiter rosa Rezepte. Beschlossen und verkündet. Und der herausfordernde Appell an die Politik: Ihr werdet doch nicht etwa dagegen sein, dass unsere Patient:innen mit Arzneimitteln versorgt werden, oder?
Wo die Freundschaft zwischen den Berufsgruppen dann von Ort zu Ort mehr oder weniger leidet, ist das Thema Impfen in der Apotheke. Die Bundesapothekerkammer hat den Winter offenbar nicht kommen sehen und feilt noch an ihrem Schulungscurriculum. Solange dürfen die Apotheken auf keinen Fall Impfstoff abzweigen, ermahnt die Kammer in Niedersachsen. Doch es gibt unbeugsame Kollegen anderenorts, die einfach loslegen, und es gibt zum Glück auch Behörden, die unbürokratisch mitspielen und den Willen des Gesetzgebers anerkennen. Und mal ganz ehrlich: Über die räumlichen Auflagen muss man vielleicht nicht mehr allzu gründlich nachdenken, wenn jetzt auch bei dm geimpft wird.
Nur müsste Minister Lauterbach schnell mit seinem hoffentlich voll beladenen Lkw zurückkommen, sonst ist weder in der Praxis, noch in der Offizin, noch in der Drogerie genug Impfstoff da. Laut KBV kann nur etwa ein Viertel der georderten Dosen ausgeliefert werden. Das entspricht einem Vial pro Arzt. Na dann: Alle nochmal tief durchschnaufen am 4. Advent. Schönes Wochenende!