3 Euro Bürokratie für 50 Cent Lohn Alexander Müller, 18.02.2023 08:00 Uhr
„Besser als nichts.“ 50 Cent Zuschlag, wenn sie wegen Nichtverfügbarkeit Rücksprache mit dem Arzt oder der Ärztin halten muss – Apothekerin Tanja Lummersbach findet den Zuschuss gar nicht so schlecht. Sie sortiert den nächsten Beleg ein, wo früher einmal ihr Generalalphabet war. Gut, dass es aktuell so viele Engpässe gibt, sonst hätte sie gar keinen Platz für die Dokumentation.
Denn einfach so gibt es den Engpass-Obolus natürlich nicht. Wir stellen uns das so vor: Der Patient oder die Patientin bringt ein Rezept, das verordnete Mittel ist selbstverständlich nicht verfügbar. Zunächst muss ein DEFEKTBELEG des Herstellers oder dreier Großhändler SCHRIFTLICH vorliegen und archiviert werden.
Im nächsten Schritt muss die Praxis die Kontaktaufnahme bestätigen. Dabei sind zwingend VORDRUCKE MIT WASSERZEICHEN zu verwenden, die bei der jeweiligen Krankenkasse des Versicherten bezogen werden können. Die Kosten für die Vordrucke (6€) tragen die Kostenträger, die Apotheken zahlen das Porto.
Anzugeben sind: Datum, Uhrzeit, PZN des verordneten und des abgegebenen Arzneimittels, Kommunikationsweg der Kontaktaufnahme, Dauer des Austauschs in Minuten sowie die Namen der beteiligten Personen in Praxis und Apotheke mit Berufsbezeichnung und Sternzeichen.
Die Apotheke hat den von Arzt oder Ärztin unterschriebenen und gestempelten Lieferengpassumgehungsbeleg bei der Abrechnung einzureichen und einen Durchschlag aufzubewahren. Für den administrativen Mehraufwand dürfen die Praxen 1,45 Euro abrechnen, die Kassen erstatten davon 0,80 Euro, die Differenz hat die Apotheke zu übernehmen – ist ja schließlich ihr Engpass.
Auch wenn es in Wirklichkeit hoffentlich etwas einfacher wird – für Begeisterungsstürme in der Branche hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit seinem Referentenentwurf für ein Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln (ALBVVG) nicht gesorgt: Abda-Präsidentin Gabriele Overwiening empfindet die 50 Cent als „Herabwürdigung der Leistungen unserer Apothekenteams“. Sie fordert neben einer angemessenen Entschädigung auch dauerhaft gelockerte Austauschregeln. Sie hat noch einen bösen Brief nachgelegt.
Unterstützung bekommt sie aus den Landesverbänden. Beispielhaft Thomas Rochell, Vorsitzender des Apothekerverbandes Westfalen-Lippe (AVWL): Er befürchtet, dass das ALBVVG die Situation eher verschlimmern wird. Und sein hessischer Amtskollege Holger Seyfarth lädt Lauterbach zu einem Praktikum ein, um die Realität kennenzulernen und „Müttern zu erklären, warum wir ihnen das Antibiotikum für ihr krankes Kind nicht mitgeben können“.
Auch die Industrie ist enttäuscht: Andreas Burkhardt, General Manager von Teva Deutschland, fordert mehr Entschlossenheit und Konsequenz bei der Reform, damit Lieferengpässe langfristig und nachhaltig behoben werden. „Der Referentenentwurf räumt auf einer verschneiten Autobahn lediglich den Standstreifen frei“, so seine Metapher für Lauterbachs unaussprechliches Gesetz. Der Branchenverband Pro Generika hat bei den Herstellern abgefragt, bei welchen Präparaten sie einen Marktrückzug planen.
Aber es ist nicht alles schlecht an dem Entwurf. Der HWG-Pflichttext soll genderneutral formuliert werden. Die Patient:innen sollen künftig „Ihre Ärztin oder Ihren Arzt“ um Rat fragen – oder „in Ihrer Apotheke“. Ob sie sich „in der Apotheke“ über so viel Wertschätzung freuen? Andererseits: Bei „Ihre Apothekerin oder Ihr Apotheker“ wären die PTA zurecht gekränkt gewesen. „Pharmazierende“ hatte Minister Lauterbach dem Vernehmen nach noch vorgeschlagen. „Medikamente Abgebende“ erschien ihm zu technisch, „Engpassverwaltende“ zu negativ. Und als aus einem Referat der Vorschlag „Schubladenziehende“ kam, brach Lauterbach die Debatte ab und es wurde „in der Apotheke“. Zumindest vermuten wir, dass es so lief.
Was die Berufsgruppen eint ist die Unzufriedenheit mit dem Minister. Die Freie Apothekerschaft (FA) und IG Med starten deshalb gemeinsam eine Protestaktion an. Apotheker:innen, Ärzt:innen und weitere Heilberufe sollen ihren „letzten Kittel“ in einen Briefumschlag packen und an Lauterbach schicken. Ganz neu ist die Idee nicht, aber Ende März soll es dann noch eine größere Protestaktion in Berlin geben.
Ein großer Schmerzpunkt ist die wachsende Belastung durch Notdienste, die sich als Folge des Apothekensterbens auf immer weniger Apotheken verteilen. In Hessen arbeitet die Gruppe „Revolution Notdienst“ an einer neuen Zukunft, eine Mitstreiterin hat sogar schon die Kammer verklagt. Kein systematisches Problem, aber ein Einzelfall, in den sich vermutlich viele Kolleg:innen hineinversetzen können: Der verordnende Arzt ist im Notdienst nicht zu erreichen.
Rücksprache muss aber nicht nur aus medizinischen Gründen manchmal unbedingt sein, sondern auch zur Vermeidung von Retaxationen. Die GfS digitalisiert jetzt den Retax-Prozess und die Apotheken befürchten, dass damit die Aufgreifschwelle sinkt.
Kein ausgewiesenes Erfolgsmodell der Digitalisierung ist bislang das E-Rezept. Aber jetzt hat die Gematik miteteilt, dass das eGK-Verfahren im Sommer starten soll. Kontextlose Assoziation: Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn hat seine Villa wieder verkauft, weil diese nie Rückzugsort geworden ist.
Noch ein Hörtipp zum Abschluss: Die Analyse des Apothekenklimaindex: Die Sorgen der Apotheken. Schönes Wochenende!