Akutversorgung

Nullretax: Barmer ignoriert Sonder-PZN Nadine Tröbitscher, 19.06.2017 10:11 Uhr

Berlin - 

Der Retax-Deal ist ein Jahr alt, doch für Entwarnung gibt es keinen Grund. Denn es gibt Kassen, die scheren sich nicht um das, was vor der Schiedsstelle mit dem Deutschen Apothekerverband (DAV) verhandelt wurde. Ein Apotheker aus dem Hochsauerlandkreis wurde von der Barmer auf Null retaxiert, weil er wegen eines Akutfalls den Rabattvertrag nicht bedient hatte. Obwohl alle Formalien eingehalten wurden, fühlt sich die Kasse im Recht. Das Vorgehen hat Methode – in der Vergangenheit wurden Einsprüche zu gleichen Fällen abgelehnt.

Ob am Wochenende, im Notdienst oder zu den regulären Öffnungszeiten – eine Akutversorgung kann zu jedem Zeitpunkt in der Apotheke notwendig sein. Müssen Patienten dringend versorgt werden, können Apotheker die Sonder-PZN und den Faktor 5 – Nichtabgabe eines rabattbegünstigten Arzneimittels aufgrund eines dringenden Falles – nutzen. Ein begründender Vermerk, Datum, Unterschrift und vorzugsweise die Angabe der Uhrzeit gehören auf das Rezept.

Diese Kriterien hatte der Apotheker aus dem Sauerland erfüllt – dennoch wurde er von der Barmer auf Null retaxiert. Keinen Cent soll es für das abgegebene Omeprazol geben. Die Krankenkasse begründete ihre Entscheidung mit dem „Verstoß gegen die Abgabebestimmungen“: Die Vollabsetzung sei gerechtfertigt, da nicht eines der drei günstigsten Präparate abgegeben worden sei, sondern das namentlich verordnete. Laut Apotheker stand das abgegebene Produkt auf Position 5 – 1,74 Euro war das abgegebene Omeprazol teurer als das günstigste Produkt. Der Retaxdienstleister GfS teilt dem Pharmazeuten mit, dass der Arzt den Vorgang gegenzeichnen müsse, wenn er aufgrund der Dringlichkeit ein anderes Arzneimittel abgebe.

Damit setzte sich die Kasse über den Rahmenvertrag hinweg: Eine Nullretaxation ist nämlich nur zulässig, wenn ohne einen erkennbaren Grund gegen die Verpflichtung zur Abgabe des Rabattarzneimittels verstoßen wurde. Da der Apotheker die Abgabe im Rahmen der Akutversorgung entsprechend gerechtfertigt hatte, war die Rechnungskürzung eigentlich nicht gerechtfertigt.

Der Apotheker wandte sich an den Retaxservice des Apothekerverbandes Westfalen-Lippe (AVWL). Die Clearingstelle hält die Nullretaxion ebenfalls für „unzulässig“ und „vertragsfern“: Vollabsetzungen seien ausschließlich dann erlaubt, wenn „ohne erkennbaren Grund kein Rabattarzneimittel abgegeben“ worden sei, so der AVWL in seiner vierseitigen Stellungnahme an die Retaxfirma.

Der Apotheker sei „unweigerlich ermächtigt“, unter Einhaltung der Formalitäten die Akutversorgung sicherzustellen. Dabei müsse er den festgelegten Preisanker beachten, also eines der drei günstigsten oder das verordnete Medikament abgeben. Somit komme maximal ein Absetzen der Differenz zum drittgünstigsten Präparat als Ausgleich für die wirtschaftlichen Nachteile in Betracht, heißt es in dem Schreiben.

Ohnehin habe die Schiedsstelle festgelegt, dass Vollabsetzungen unzulässig seien, wenn die Dokumentation bei Verwendung der Sonder-PZN vollständig sei beziehungsweise im Nachgang entsprechende Nachweise erbracht würden. Dies gelte rückwirkend für die Verordnungen ab dem 23. Juli 2015.

Die Apotheke riskiere „augenscheinlich angesichts Ihrer sachfremden Sanktionen einen eigenen wirtschaftlichen Schaden“, wenn sie nicht eines der preisgünstigsten Produkte an Lager habe, schreibt der AVWL weiter. „Da stellt sich die Frage, ob dem apothekenrechtlich auferlegten Kontrahierungszwang gegenüber den Barmer-Versicherten künftig nur noch nach privat gezahltem Entgelt nachgekommen werden kann.“ Apotheker müssten dann den Versicherten erklären, dass das für sie notwendige Präparat nicht abgegeben werden könne, da die Krankenkasse die Kosten nicht erstatte.

Nullretaxationen bei Akutfällen scheinen bei der Barmer derzeit Methode zu haben. Bereits mehrere Einsprüche zu gleich gelagerten Fällen in anderen Kammerbezirken seien „mit vierfacher Begründung“ abgelehnt worden, so der AVWL. Dabei verkenne die Kasse aber, dass durch die Kennzeichnung „Akutversorgung“ und „pharmazeutische Bedenken“ die Apotheken von der Substitutionsverpflichtung befreit würden. Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) zu Nullretaxationen greife damit nicht.

Die Kennzeichnungsmöglichkeit sei mit der Intention geschaffen worden, Ausnahmen im Sinne des Patientenwohls zuzulassen. Die Nichtbeachtung des Preisankers dürfe maximal zu einer „monetären Fehlerkorrektur“ führen, nicht aber zu einer Nullretaxation. Angesichts der Hartnäckigkeit der Barmer regt der AVWL an, die Angelegenheit auf Bundesebene prüfen zu lassen.

Der Apotheker aus dem Sauerland hat am Pfingstsamstag schon sein nächstes Erlebnis der besonderen Art: Weil er DAK-Versicherte nicht mit ableitenden Inkontinenzprodukten versorgen darf, verschenkte er einen Katheter an einen seiner Kunden, der dringend auf Versorgung angewiesen war. Auf Nachfrage der Kasse erhielt der Pharmazeut zwar Mitleid, aber an der Sache könne man nichts ändern.