Aggression im Notdienst: Apotheker zückt Pfefferspray Carolin Ciulli, 19.09.2024 09:56 Uhr
Offene Aggressionen haben in den Praxen deutlich zugenommen. Ein feindseliges Verhalten spüren mitunter auch Apothekerinnen und Apotheker bei der Kundschaft. Dr. Henning Bohne erlebte Samstagnacht eine extreme Reaktion eines Kunden, die Auswirkungen auf seine Arbeit hat.
Bohne absolvierte in seinem Berufsleben bislang rund 2000 Nacht- und Notdienste. Der Inhaber der Löwen-Apotheke in Siegen ist auch Mediziner und war nach den regulären Öffnungszeiten oft auch noch als Bereitschaftsarzt im Einsatz. Doch so etwas wie am Samstag ist ihm noch nicht begegnet. Kurz vor Mitternacht habe die Notdienstglocke geläutet. Wegen eines Telefonats mit einer Klinik habe er nicht sofort, aber nach wenigen Minuten an die Tür gehen können.
Doch draußen habe ein Kunde bereits getobt: „Ich hörte auf einmal Schreie.“ Der sehr aggressive junge Mann sei in dieser kurzen Zeit zurück zum Auto gegangen und habe „dauergehupt“ und alle Nachbarn geweckt, sagt Bohne. Als der Apotheker an die Tür kam, habe er aus Aggression „mit größter Gewalt gegen meine großen Fensterscheiben getrommelt – so sehr, dass sie sich bewegt haben“.
Paroli vom Inhaber
Der Apotheker konnte nicht an sich halten und reagierte ebenfalls laut auf die Art und Weise des Patienten. „Ich wurde auch aggressiv, habe mir sein Auftreten verbeten und habe ihm so die passende Reaktion durch die Notdienstklappe gegeben, dann wurde er ruhiger.“ Als Grund für das aggressive Verhalten gibt Bohne die kurze Wartezeit an. Gleichzeitig hatte er sein Pfefferspray in der Hand. Der Mann habe ein Breitbandantibiotikum abholen wollen. „Das Perfide an solchen Menschen ist, dass sie vis-à-vis dann freundlich sind.“
Der 68 Jahre alte Inhaber zeigte während der Aktion Haltung. Im Anschluss habe er am ganzen Körper gezittert. „Normalerweise begegnen mir die meisten Kunden mit Respekt. Doch seit etwa einem Jahr ändert sich etwas und die Aggressionen nehmen zu.“ Es handele sich dabei um eine Mischung aus „Forderung und Drohung“, sagt er. „Das, was die Ärzte schildern, passiert auch in Apotheken.“
Als Arzt sei er es „ein bisschen“ gewöhnt, dass man ihm auch „etwas arrogant“ gegenübertrete – etwa durch Angehörige, wenn er im Notdienst zu einer Oma wegen eines Schnupfens gerufen werde. Aber diese Form der Aggression sei neu. Für sich selbst zieht er Konsequenzen aus dem Vorfall am Wochenende: „Ich habe im Notdienst in der Apotheke die Tür immer bis 22 Uhr oder 22.30 Uhr offengelassen. Das werde ich nie wieder machen.“
Apotheker warnt vor Notdienst-Angst
Auch Apotheker Torsten Heide pflichtet ihm bei: „Die Leute haben insgesamt eine kurze Lunte bekommen“, sagt der Inhaber der Eisenhut Apotheke in Siegen. Ihm selbst ist so eine Aggression noch nicht begegnet. Doch wenn das zunehmen werde, bekämen die Apotheken „bald richtig Probleme“, warnt er. „Dann werden viele sich weigern, Nacht- und Notdienste zu leisten. Dann muss die Allgemeinheit unter zwei bis drei wenigen Unbeherrschten leiden.“
Der Inhaber fragte bei seinem Versicherungsunternehmen nach. Dort habe man auf Sachversicherungen bei Vandalismus oder den Rechtschutz bei Schadensersatzklagen verwiesen. Er selbst erlebe ebenfalls eine Verrohung der Kundschaft, schrieb sein Ansprechpartner an den Apotheker – und meinte damit dessen Kollegen: Auch wenn es keine körperliche Bedrohungen seien, kenne er Sätze wie: „Ich sorge dafür, dass Sie nirgendwo mehr eine Apotheke versichern können.“
Schläge und Spucken gegen Kassenärzte
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) informierte unlängst über die Zunahme von Beschimpfungen, Beleidigungen und körperlicher Gewalt in Praxen. Dies werde zur Belastung. Mit einer Befragung will die KBV herausfinden, wie häufig Praxen von Anfeindungen und Gewalt betroffen sind. Dabei gehe es sowohl um verbale als auch um körperliche Gewalt wie Schläge, Tritte, Spucken oder Kratzen sowie die Bedrohung mit Waffen oder anderen Gegenständen.
„Offene Aggression und ein extrem forderndes Verhalten – nicht zuletzt geschürt von Politik und Krankenkassen – haben deutlich zugenommen“, sagt KBV-Chef Dr. Andreas Gassen. Nicht nur in Notaufnahmen, auch bei den Niedergelassenen eskaliere die Lage immer öfter. Er forderte „deutliche und schnelle“ Strafen.