Das Sozialgericht Düsseldorf hat entschieden, dass Ärzte Rezepte für parenterale Ernährungslösungen nicht im Nachhinein ausstellen dürfen. Ein Skandal, findet Henrik Justus. Der Apotheker leitet das Sterillabor der Privilegierten Rats-Apotheke Uslar, die nach eigenen Angaben zu den zehn größten ambulanten Zytostatikaversorgern in Deutschland gehört. Aus seiner Sicht gibt es durch das Urteil nur Verlierer.
ADHOC: Warum halten Sie die Entscheidung des Sozialgerichts für ein „Skandalurteil“?
JUSTUS: Wieder einmal versuchte eine Krankenkasse, mit Hilfe eines Sozialgerichts wegen formalen Fehlern um die Vergütung eines von einer Apotheke abgerechneten Rezepts herum zu kommen. Die nachträgliche Rezeptierung der tatsächlich benötigten Medikamente hat sich vielerorts durchgesetzt, da diese für einen reibungslosen Ablauf sorgt, kostengünstiger für die Kassen ist und letztendlich auch den Patient entlastet. Man darf nicht vergessen, dass es sich und schwerkranke Patienten handelt, bei denen die Versorgung ganz anders abläuft als bei Kunden mit normalen Fertigarzneimitteln.
ADHOC: Die Kassen werfen den Ärzten Unwirtschaftlichkeit vor.
JUSTUS: Ich sehe in diesem Fall wirklich nicht den kleinsten Zusammenhang. Es wären keine Kosten gespart worden, wenn die Therapien statt auf einem Infusionsplan auf einem Kassenrezept – Muster 16 – verordnet worden wären. Im Gegenteil: Bei Dauerverordnungen kann es zu den gleichen Problemen kommen, nur viel schlimmer. Je länger im Voraus verordnet wird, desto größer ist der Verwurf bei Medikationswechseln. Wie gesagt: Durch die derzeitige Methode spart die Kasse sogar.
ADHOC: Was ist mit Einzelrezepten?
JUSTUS: Ich sehe es schon bildlich vor mir: Wie vom Gericht gefordert, stellt der Arzt das Rezept an den Patienten aus. Dieser macht sich mit seinem Infusionsständer in der Straßenbahn auf den Weg und löst es in einer Apotheke ein – die weit entfernt sein kann, da nur sehr wenige diese Infusionen herstellen können. Und das jeden Tag. Auch sonn- und feiertags.
ADHOC: Dann wäre immerhin den gesetzlichen Anforderungen Genüge getan...
JUSTUS: Das ist reine Theorie und in der Praxis nicht umsetzbar. Abgesehen von der unzumutbaren Belastung für die Patienten würden Einzelverordnungen den Aufwand in der Praxis und in der Apotheke massiv erhöhen. Unnötige Bürokratie geht immer zu Lasten der Versorgung. Das Fachliche würde auf der Strecke bleiben, so wie bei den Rabattverträgen: Wenn ich erst alle Formalien abklären muss, hat der Patient gar keine Geduld mehr für den zweiten und wesentlichen Teil des Beratungsgesprächs.
ADHOC: Zumindest wären Doppelverordnungen und Verordnungen über den Tod hinaus ausgeschlossen.
JUSTUS: Es wird sich nie verhindern lassen, dass bereits produzierte Ware bei Therapieumstellungen verworfen werden muss oder wenn ein Patient verstirbt. Im vorliegenden Fall hatten die Ärzte ja auch nur ein verlängertes Wochenende verordnet, und weder Arzt noch Apotheker waren über den Tod informiert. Übrigens wird bei der Verordnung von 100 Blutdrucktabletten auch nie ein Arzt nach den Überlebenschancen des Patienten fragen, damit sich diese Mengenverodnung lohnt.
ADHOC: Verstehen Sie die juristischen Bedenken?
JUSTUS: Ehrlich gesagt: Nicht wirklich. Die Pläne, die die Ärzte an die Apotheker abgeben, erfüllen alle Kriterien eines Rezeptes. Der Apotheker unterliegt daher dem Kontrahierungszwang. Der Rest betrifft die Abrechnung. Abgesehen davon sind wir nicht nur ein Rechtsstaat, sondern auch ein Sozialstaat. Die Krankenkassen sollten sich täglich vor Augen führen, welchem Zweck sie dienen. Es ist die Versorgung der Mitglieder und Beitragszahler und nicht die Entwicklung weiterer Bürokratiemonster zur Gängelung von Patienten und Leistungserbringern.
ADHOC: Welche Folgen könnte das Urteil haben?
JUSTUS: Leider sind Patienten, was parenterale Ernährung anbelangt, heute unterversorgt, da sich die Therapie noch nicht bei allen Ärzten durchgesetzt hat. Um Regressen dieser Art vorzubeugen, könnte der Arzt im schlimmsten Fall diese Therapie nicht mehr verordnen. Oder er greift auf standardisierte Fertigarzneimittel zurück, die übrigens mitunter teurer sind.
Formaljuristisch umgeht er damit die Angabe eines Versorgungszeitraums. Er verordnet für einen halben Monat und die Kisten lagern dann beim Kunden. Verwürfe könnten damit nicht verhindert werden, dagegen werden die individuellen Anforderungen des Patienten nicht mehr berücksichtigt: Er bekommt jetzt immer in gleicher Menge Spargelcremesuppe, Schnitzel, Kartoffeln, Erbsen und Pflaumenkompott intravenös, auch wenn er nur Schnitzel und Kartoffel oder vegetarisch benötigt.
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