Abmahnungen

Missbrauchtes Recht

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Berlin -

Mehrere tausend Apotheker hatten in einer dadurch wenig besinnlichen Adventszeit Abmahnungen von der Brücken-Apotheke aus Schwäbisch Hall beziehungsweise einer Leipziger Kanzlei erhalten. Apotheker Hartmut Wagner und Rechtsanwalt Christoph Becker monierten vermeintliche Wettbewerbsverstöße und forderten zum Teil horrende Abmahngebühren. Doch nach der ersten Gegenwehr streckten die Angreifer schnell die Waffen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen beide. Der Fall taugt zudem zum Lehrstück für Juristen, wann eine Abmahnung rechtsmissbräuchlich ist.

Rechtsanwalt Dr. Timo Kieser von der Stuttgarter Kanzlei Oppenländer hatte zahlreiche Fälle zur Brücken-Apotheke auf dem Schreibtisch. Beim Apothekenrechttag in Hamburg erklärte er, wann ein Rechtsmissbrauch anzunehmen ist und welche Indizien in diesem Fall als erfüllt gelten dürfen.

Allgemein sind die Hürden für einen Rechtsmissbrauch recht hoch. Die Gerichte sind in dieser Hinsicht eher streng, da Abmahnungen als Korrektiv des Wettbewerbs prinzipiell erwünscht sind. Kieser stellte neun Kriterien vor, die für einen Rechtsmissbrauch sprechen. Welche oder wie viele davon erfüllt sein müssen, damit der Angriff ins Leere geht, hängt wiederum vom Gericht ab.

Erstes Indiz: Massenhafte Abmahnungen bei geringfügigen Wettbewerbsverstößen. Wagner und Becker hatten mehrere tausend Apotheker bundesweit abgemahnt, zum Teil wegen Bagatell-Verstößen. So wurde in Webshops etwa die Vorbestellfunktion von Betäubungsmitteln moniert, obwohl de facto kein Verstoß gegen das Versandverbot vorlag. Auch die fehlende Angabe des „e.K.“ hinter dem Namen des Apothekers wurde moniert, obwohl dies wettbewerbsrechtlich irrelevant sein dürfte. Von der geforderten Angabe der Berufshaftpflicht ist der Gesundheitsbereich sogar explizit ausgeschlossen.

Zweites Indiz: Der Umfang des eigenen Geschäftsbetriebs passt nicht zur Anzahl der Abmahnungen. Die Brücken-Apotheke war zur Zeit der Abmahnung in Schwäbisch Hall ein reines Ladengeschäft. Wagner hatte die Apotheke erst im Februar 2014 übernommen und der vorherige Inhaber hatte sie aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen. Ein Wettbewerbsverhältnis zu anderen Apotheken bundesweit bestand also kaum. Dennoch erhielten mehrere tausend Apotheker am 30. November Post von Wagners Anwalt.

Drittes Indiz: Prozesskostenrisiko für Abmahnenden ist unverhältnismäßig hoch. Kieser hat Abmahnungen mit deutlich überhöhten Gegenstandswerten zwischen 10.000 und 320.000 Euro gesehen. Bei einem Streitwert von 200.000 Euro belaufe sich das Prozesskostenrisiko schon auf etwa 40.000 Euro – pro Rechtsstreit, rechnete der Anwalt vor. Allein bei 1000 Abmahnungen wäre Wagner damit ein Prozesskostenrisiko von rund 40 Millionen Euro eingegangen. Da muss man sich schon sehr sicher sein.

Viertes Indiz: Abmahnkosten zu hoch für den Geschäftsbetrieb des Abmahnenden. Dasselbe gilt für die Abmahnkosten. Becker hatte von den abgemahnten Apothekern regelmäßig bis zu 3000 Euro für die Abmahnung verlangt. Demnach hätte Wagner wiederum schon bei 1000 erfolglosen Abmahnungen 3 Millionen Euro an Becker zahlen müssen. Kieser geht deshalb davon aus, dass es eine Nebenabrede zwischen Apotheker und Anwalt gab, dass die Abmahnkosten nur im Erfolgsfall fällig und eingetrieben werden.

Fünftes Indiz: Mehrfachabmahnungen. Kieser zitierte hier ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH). Die Karlsruher Richter hatten schon im Jahr 2000 eine Abmahnwelle für rechtsmissbräuchlich erklärt, bei der ein Verstoß mehrfach abgemahnt wurde. Im Fall Brücken-Apotheke wurden an eine Apotheke nicht weniger als sechs Abmahnungen verschickt, berichtete Kieser.

Sechstes Indiz: Textbausteine, Druck erzeugen, Drohung – die Gestaltung der Abmahnung. Becker hatte den abgemahnten Apotheken mit einer Anzeige bei den Aufsichtsbehörden und der Apothekerkammer gedroht. Die Passagen waren fett hervorgehoben. Die Abmahnungen enthielten zudem vielfach ein „Vergleichsangebot“, bei dem die Apotheker innerhalb von fünf Tagen eine bestimmte Summe zahlen sollten, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Kritisch sieht Kieser auch, dass offenbar identische Vollmachten ohne Bezug zu den Abmahngegnern ausgestellt wurden. Auch die vorgefertigte Unterlassungserklärung war demnach nicht individualisiert.

Siebtes Indiz: Missbräuchliche Wahl des Gerichtsstandes. Hier wurde ein Rechtsmissbrauch schon bestätigt, wenn systematisch bei einem Gericht weit entfernt vom Sitz des Gegners Klage erhoben wird. Auch die Streuung auf mehrere Gerichte, um die Massenabmahnung zu verschleiern, fällt darunter. In diesem Punkt ist die Becker/Wagner-Abmahnung nicht zu beanstanden. Gerichtsstand war nach dem „Neuen Hamburger Brauch“ der Sitz des Verfahrensbevollmächtigten, in diesem Fall also Leipzig.

Achtes Indiz: Verfolgung sachfremder Ziele. Dies ist Kieser zufolge immer dann der Fall, wenn hinter der Abmahnung eine Schädigungsabsicht steckt. Selektives Abmahnen konnte man Wagner/Becker dagegen nicht vorwerfen. Hier hat der BGH 2011 gegen ein Glücksspielverband entschieden, der ausschließlich Nichtmitglieder abgemahnt hatte, um diese zur Mitgliedschaft zu bewegen.

Neuntes Indiz: Überhöhte Gegenstandswerte, Abmahnungen gezielt nach Gesetzesänderungen, pauschale Schadensersatzforderungen. Unter die sonstigen Indizien fällt im Fall Brücken-Apotheke etwa, dass bundesweit Apotheken abgemahnt wurden, obwohl keine Konkurrenzsituation bestand – eine Versanderlaubnis hatte Wagner nicht.

Damit sind Kieser zufolge acht von neun Indizien erfüllt, die für einen Rechtsmissbrauch sprechen. Das sei schon eine Seltenheit, so der Rechtsanwalt. Und man könne sich schon fragen, „was da vorher gedacht worden ist“.

Bereits am 9. Dezember hatte Becker im Auftrag von Wagner sämtliche Abmahnungen zurückgenommen. Die Brücken-Apotheke wurde noch vor Weihnachten vom Großhandel leergeräumt und ist geschlossen. Neben den Strafanzeigen gab es auch Beschwerden bei der Anwaltskammer gegen Becker. Diese wird die Sache aber bis zum Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ruhen lassen.

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