84-Stunden-Woche: Notdienst mit Sohnemann Torsten Bless, 11.02.2018 14:38 Uhr
Seine Arbeitswoche zählt schon mal 84 Stunden. Doch Landapotheker Johannes Jaenicke aus dem rheinland-pfälzischen Rhaunen macht aus der Not eine Tugend und nimmt schon mal einen seiner Söhne zum Notdienst mit in die Offizin.
Vor 14 Jahren erhielt Jaenicke seine Approbation, seit zehn Jahren ist er selbstständig. „Die Adler-Apotheke ist über 200 Jahre alt und damit einer der ältesten im Hunsrück“, erzählt er. „Wir führen sie jetzt in dritter Generation, mein Großvater Ulrich hat sie 1963 als Pächter übernommen und 1980 an meinen Vater Ottokar übergeben. Ich bin in der Apotheke groß geworden, mein Vater hat damals noch in jeder zweiten Woche den kompletten Notdienst für sieben Tage geschmissen.“
Diese Zeiten sind zwar vorbei. „Doch viele Landapotheken im Hunsrück so wie wir sind noch immer für einen großen Einzugsbereich zuständig, die nächste Apotheke liegt 16 Kilometer entfernt“, sagt Jaenicke. Noch heute kämen mehr als 50 Notdienste pro Jahr zusammen. „Jede Woche bin ich mindestens einmal auf Bereitschaft, manchmal sogar zweimal, oft auch an den Wochenenden.“ Gerade an Samstagen und Sonntagen müssen seine Patienten weite Wege zurücklegen. „Wenn man erst den ärztlichen Notdienst in Idar-Oberstein in Anspruch nimmt und dann mit dem Rezept zu uns kommt, ist schon mal ein ganzer Vormittag drauf gegangen.“
Nicht jeder will diese Tortur auf sich nehmen. So sorgen seine Kunden vor. „Die Leute sind es seit Jahrzehnten gewohnt, sich einen Grundstock an Medikamenten anzulegen, gerade die Mütter hier vor Ort haben eine top ausgestattete Baby-Hausapotheke.“ Das unterscheide sie von Apothekenkunden in den Großstädten oder dem nahe gelegenen Mittelzentrum Idar-Oberstein. „Fehlt ihnen am Wochenende etwas, dann fahren sie eben in die nächste dienstbereite Apotheke. Wenn wir den Notdienst auch für Idar-Oberstein mit übernehmen, wird schon mal eher wegen einem Nasenspray geklingelt. Aber in der Regel kommen meine Patienten erst, wenn sie schon den Kopf unterm Arm tragen.“
Das macht die Sonderschichten nicht wirklich profitabel. „Im letzten Sonntagsnotdienst hatten wir im Laufe der Zeit nur 20 Kunden“, berichtet Jaenicke. „Da bin ich dankbar für den Notdienstfonds, der hilft gerade Landapotheken. Doch auch dann lohnt es sich nicht, einen Apotheker zu bezahlen.“ So bleibt der Notdienst Chefsache. Gemeinsam mit den fürstlichen regulären Öffnungszeiten kommen schnell schon mal 84-Stunden-Wochen zusammen.
Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, ist da nicht immer einfach. Der älteste Sohn ist vier, der zweitälteste drei Jahre alt, der dritte Sohn ist für Juli angekündigt. „Fernsehen haben wir hier auf dem Land nicht“, nennt Jaenicke als Grund für seinen Kindersegen.
Die kurzen Wege im 2200-Seelen-Dorf helfen ihm, das Familienleben zu pflegen. „Ich gehe fünf Minute zu Fuß von unserem Haus zur Apotheke“, berichtet Jaenicke. „So kann ich jeden Tag mit meiner Familie zusammen Mittag essen und oft meine Söhne aus dem Kindergarten abholen. Womöglich sehe ich meine Kinder noch öfter als so mancher Schichtarbeiter.“
Theoretisch könnte er auch den Notdienst von daheim aus betreuen und die Klingel auf sein Mobiltelefon weiterleiten. „Die Entfernung zur Apotheke ist nah genug, um sie innerhalb der gesetzlichen zeitlichen Vorgaben zu erreichen“, sagt Jaenicke. „Aber es kann sein, dass sich schon der nächste Kunde meldet, wenn ich gerade wieder zu Hause eingetroffen bin. Ich kann meinen Söhnen nicht immer begreiflich machen, warum ich schon wieder gehen muss, die Abschiedsszenen können schon mal dramatisch sein.“
So macht er die Not zur Tugend und nimmt die Sprösslinge das eine oder andere Mal mit in den Dienst. Ganz nebenbei wird so die nächste Generation an die pharmazeutische Welt herangeführt. „Sie wissen, dass eine Apotheke kein Spieleparadies ist, aber sie haben sich ihre eigenen Ecken geschaffen und herausgefunden, wo die Bonbon-Belohnungskiste steht. Nach den ersten Notdienstkunden schwächeln sie schon mal und können sich im bereitstehenden Bett aufs Ohr legen.“
Trotz aller Widrigkeiten und Marathonschichten hat Jaenicke nie bereut, in die Fußstapfen von Großvater und Vater getreten zu sein. „Apotheker ist noch immer mein Traumberuf“, bekundet er. „Kein Tag ist wie der andere, mir wird nie langweilig.“ Der Zuspruch der Bevölkerung erleichtere ihm die vielen Überstunden: „Die Menschen auf dem Land sind sehr dankbar, hier wissen sie noch den Wert einer Apotheke zu schätzen.“