Teurer Abrechnungsfehler

630.000-Euro-Retax: LAV haftet nicht für Verträge

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Berlin -

Vor dem Bundessozialgericht (BSG) wird demnächst über die vermutlich höchste jemals ausgesprochene Nullretaxation verhandelt. Nicht weniger als 630.000 Euro will eine Kasse aus Bayern von einem Apotheker aus dem Raum Karlsruhe zurück – weil der angeblich Einkaufsrabatte verschwiegen hatte. Nach dem Sozialgericht (SG) lehnte auch das Landessozialgericht (LSG) eine mildere Strafe ab, genauso wie eine Haftung des Landesapothekerverbands (LAV). Die letzte Hoffnung ruht nun auf den Richtern in Kassel.

Der Apotheker hatte 2014 und 2015 ingesamt 240 Packungen Kogenate (Bayer) im Gesamtwert von 630.092,20 Euro abgegeben; sein Schwiegersohn hatte fünf entsprechende ärztliche Verordnungen vorgelegt. Bei der Kalkulation rechnete die Apotheke auf der Grundlage des in der Lauertaxe gelisteten Einkaufspreises ab; dieser belief sich auf 2195,20 Euro netto pro Packung. Tatsächlich hatte er beim Bezug vom Hersteller jedoch nur 1700 beziehungsweise 2070 Euro bezahlt, wie er später auf Nachfrage gegenüber der Rezeptprüfstelle einräumte. Ausgerechnet der behandelnde Arzt hatte die Kasse – möglicherweise um einen Regress abzuwenden – auf den Unterschied aufmerksam gemacht.

Tatsächlich waren Hämophiliepräparate damals nicht nur von der Apothekenpflicht ausgenommen, sondern auch von der gesetzlichen Preisbildung. Eine entsprechende Regelung für „Blutkonzentrate zur Behandlung bei Bluterkrankheit“ fand sich in § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) sowie ergänzend in § 10 Arzneiliefervertrag (ALV) für Baden-Württemberg. Anlage 2.1 enthielt gesonderte Bestimmungen zur Preisberechnung in Bezug auf „aus menschlichem Blut gewonnene Blutzubereitungen oder gentechnologisch hergestellte Blutbestandteile, sofern nicht die AMPreisV anzuwenden ist“. Wörtlich hieß es: „Hier beträgt der Zuschlag auf die Listeneinkaufspreise maximal 4,5 % zzgl. MwSt. Sofern sich unter sinngemäßer Anwendung der AMPreisV neu, netto zzgl. MwSt. ein niedrigerer Preis ergibt, kann maximal dieser Preis abgerechnet werden.“

67.000 Euro zu viel abgerechnet

Aus Sicht der Kasse geht aus der Formulierung unmissverständlich hervor, dass nur diejenige der beiden Berechnungsmöglichkeiten zulässig war, die einen niedrigen Preis ergeben hätte. Indem einfach der Listenpreis zugrunde gelegt und nach AMPreisV kalkuliert worden sei, habe er in Summe 67.000 Euro zu viel abgerechnet und damit einen unzulässigen Vorteil erzielt, befand die Kasse – und kürzte auf Null.

Auch das SG Karlsruhe sah einen „eklatanten Verstoß gegen die Abrechnungsvorschriften und damit auch gegen die Vorgaben des ALV“ und erklärte im Mai 2019 die Retaxierung des kompletten Betrags – und damit den vollständigen Verlust des Vergütungsanspruchs – nicht nur für rechtens, sondern für zwingend.

Die Nullretaxation habe nämlich noch nicht einmal einen Sanktionscharakter, sondern stelle die „normale wirtschaftliche Reaktion auf eine vorschriftswidrige Abrechnung“ dar und diene alleine dem „Ausgleich einer unrechtmäßig entstandenen Vermögenslage“, so das Gericht. Sie setze daher auch kein Verschulden voraus, sondern sei lediglich die „zwingende Folge“ der Tatsache, dass nach den Regeln des Krankenversicherungsrechts eine rechtmäßige Arzneimittelabgabe die Voraussetzung für die Entstehung eines Vergütungsanspruchs sei.

Eine Verletzung der Grundrechte des Apothekers oder eine Unverhältnismäßigkeit seien schon deswegen nicht zu erkennen, weil es sich um eine gängige und höchstrichterlich abgesegnete Maßnahme handele, die beispielsweise auch Krankenhäuser treffen könne und gerade im Gemeinwohlinteresse der Versichertengemeinschaft stehe. Auch der Anspruch auf Zahlung der Zinsen in Höhe von 9 Prozent sei daher begründet.

Nullretax schützt vor Versuchung

Auch das LSG blieb knallhart: Wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausdrücklich bestätigt habe, sei eine Kürzung des Differenzbetrags nicht in gleicher Weise geeignet wie eine Nullretaxation, da sie „keinerlei Anreiz für ein ordnungsgemäßes Abgabe- und Abrechnungsverhalten“ biete: Da Apotheken in jedem Fall mindestens den Betrag behalten dürften, der sich bei ordnungsgemäßer Abgabe und Abrechnung ergeben hätte, würde „gerade ein Anreiz geschaffen, bei der Abrechnung großzügig zu sein und zu versuchen, einen höheren Preis als zulässig abzurechnen, in der Hoffnung, dass dies unbemerkt beziehungsweise unbeanstandet bleiben könnte“.

Im Berufungsverfahren hatte der Apotheker versucht, eine Beiladung des LAV sowie aller am Vertrag beteiligten Krankenkassen zu erwirken, da diese die aus seiner Sicht missverständlichen Formulierung vereinbart hatten.

Kein Schadenersatz durch LAV

Doch eine Haftung des LAV komme offensichtlich nicht in Betracht, so das LSG in der jetzt veröffentlichten Urteilsbegründung. Es fehle bereits an einer Pflichtverletzung: Alleine aus dem Umstand, dass nun Streit zwischen den Beteiligten über die Auslegung der Preisbestimmung im ALV in Verbindung mit der AMPreisV bestehe, könne nicht abgeleitet werden, der LAV habe die Interessen seiner Mitglieder nicht hinreichend vertreten und sei daher zu Schadenersatz verpflichtet.

„Denn den LAV trifft gegenüber seinen Mitgliedern entgegen der Auffassung des Beklagten keine Pflicht, ausschließlich eindeutige vertragliche Regelungen zu treffen, die keinerlei Auslegung bedürften oder die keinen Auslegungsspielraum zuließen. Sonst würden an den LAV höhere Anforderungen gestellt als an den Gesetzgeber. Denn selbst der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz verlangt nicht, dass formelle oder materielle Gesetze ausschließlich Regelungen enthalten, die keiner Auslegung zugänglich sind beziehungsweise einer solchen nicht bedürfen. Erforderlich und ausreichend ist alleine die Auslegungsfähigkeit und die gerichtliche Überprüfbarkeit der Regelungen. Diese sind hier offensichtlich gegeben.“

Erst recht komme keine notwendige Beiladung des LAV wegen einer etwaigen Falschberatung in Betracht. Denn der Apotheker sei unstreitig nicht an die Beratung durch den LAV gebunden gewesen. „Es war ihm vielmehr selbst überlassen, auf welche Art und Weise er den Festzuschlag auf die Vergütung für Kogenate berechnen wollte.“

Umgekehrt gebe es für den LAV auch kein berechtigtes Interesse, selbst in dem Prozess beteiligt zu werden. Auch wenn er die Vertrag mit den Krankenkassen verhandelt und abgeschlossen habe, seien nur die Mitglieder von der Auslegung und Anwendung dieser Preisbestimmung betroffen, also Apotheken, die Arzneimittel zulasten von Krankenkassen abgeben und abrechnen. „Die Beiladung eines Verbands scheidet aber aus, wenn von einer gerichtlichen Entscheidung nur die Interessen seiner Mitglieder betroffen sind, selbst wenn der Verband diese vertritt oder vertreten hat.“

Der Fall wurde nach einer Nichtzulassungsbeschwerde dem BSG vorgelegt und zugelassen, ist dort aber noch nicht zur Verhandlung aufgerufen.

Regresse und Retaxationen

Bis September 2020 waren Rezepte über Hämophiliepräparate in Apotheken eine Ausnahme, denn laut § 47 Arzneimittelgesetz waren sie von der Apothekenpflicht (ApoG) ausgenommen – die Versorgung lief meist direkt über spezialisierte Ärzte und Hämophiliezentren. Daher waren „Blutkonzentrate zur Behandlung bei Bluterkrankheit“ auch von den Preisvorschriften ausgenommen.

Weil der Bezug der Praxen direkt beim Hersteller günstiger war, hatten die Kassen ein großes Interesse daran, die Apotheken außen vorzuhalten. Mitunter wurde Ärztinnen und Ärzte sogar in Regress genommen, wenn sie dennoch Rezepte über die extrem hochpreisigen Präparate ausstellten. In anderen Fällen wurde Apotheken die Differenz zum sogenannten Zentrumspreis retaxiert, was die Sache für sie zum Verlustgeschäft machte, weil sie ja teurer eingekauft hatten.

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