20 Milliarden Euro haben das „bürokratische Monster“ Gesundheitsfonds und die Krankenkassen nach letzten Meldungen im Jahre 2011 angehäuft - eine ungeheure Summe. Was soll man damit tun? In die Rücklagen stecken? An die Beitragszahler ausschütten? Neue Leistungen anbieten? Oder einfach dem Finanzminister in den Rachen werfen?
Die Leistungserbringer im Gesundheitswesen werden jedenfalls nichts davon sehen - bis auf die notwendigsten Korrekturen, damit das System nicht ganz zusammenbricht. Die Ärzte auf dem Lande kriegen ein bißchen was und die Krankenhäuser. Die Apotheken hingegen warten weiter auf politische Maßnahmen gegen Versandhandel und „Pick-up-Stellen“ – vergeblich. Die „Systemzerstörer“ sind stärker. Doch was sie tun und wie sie es tun, beweist ihre Inkompetenz.
Mit diesen Themen setzt sich in ihrer März-Ausgabe die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland in zwei Leitartikeln und dem Kommentar auseinander. Die NAGZ erscheint deutschlandweit mit einer Auflage von 1 Million Exemplaren und ist für Endverbraucher kostenlos in Apotheken erhältlich.
WER BRAUCHT DIE APOTHEKE NICHT?
Ein Plädoyer wider die Systemzerstörer
81,7 Millionen Menschen leben in Deutschland. Vier Millionen pro Tag besuchen eine Apotheke. Das sind fünf Prozent der gesamten Bevölkerung. Junge und Alte, akut Erkrankte und chronisch Kranke, Patienten und „Besorger“ für die, die nicht laufen können, Rentner und Menschen im Arbeitsprozess. Sie alle eint die Sorge um die Gesundheit, entweder um die eigene oder um die eines Angehörigen.
So teilt sich denn die Welt in Kranke und Gesunde. Tag für Tag. Wobei Kranke gesund werden und Gesunde krank – ein ständiger Wechsel. Jeder ist mal dran in seinem Leben. Und manche öfters und manche länger oder dauernd. Das Schicksal ist blind. Gut, dass man nicht weiß, was morgen ist.
Gesunde Menschen glauben nicht daran, dass sie schon morgen krank werden können. Gesunde Menschen möchten möglichst niedrige Beiträge zur Krankenversicherung zahlen. Gesunde Menschen machen sich wenig Gedanken über das Krankenhaus in der Nähe und den Arzt im Ort und die Apotheke um die Ecke. Sie finden Versandhandel von Arzneimitteln gut und haben nichts gegen Abholstellen für im Versandhandel bestellte Medikamente in Tankstellen und Blumenläden und Drogeriemärkten. Und es interessiert sie wenig, wie weit kranke Menschen laufen oder fahren müssen bis zur nächsten Apotheke. Und ob eine Apotheke überhaupt „präsent“ ist.
Politiker sind gesund, meistens wenigstens. Wenn einer mal richtig krank wird, wie vor Jahren der ehemalige Gesundheitsminister und jetzige bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer, dann denkt er anschließend anders als vorher. Aber das reicht nicht. Das ist schnell wieder vergessen. Politiker sehen das Gesundheitswesen nur als Kostenfaktor. Das muss möglichst billig sein, nicht möglichst gut. Damit stehen sie im Gegensatz zu den Kranken. Kranke möchten immer die beste Behandlung, die besten Medikamente, das beste Krankenhaus. Vor allen Dingen möchten sie gesund werden, und das möglichst schnell. Der Wunsch ist legitim.
Was hat die Apotheke, wie wir sie kennen, nun mit all dem zu tun? Sehr viel. Sie bietet all das, was ein Kranker braucht. Zuallererst ist sie eine „Präsenz-Apotheke“. So nennt man sie heute, im Gegensatz zur „Versandapotheke“. Sie ist „präsent“, nah, um die Ecke. Sie ist persönliche Anlaufstelle. Sie garantiert, dass der Patient nach dem Arzt- oder Apothekenbesuch schnell wieder zu Hause ist. Da, wo ein kranker Mensch hingehört, in die Wohnung oder ins Bett. Und wie ist es in der Nacht? Immer ist eine Apotheke in der Nähe geöffnet. Immer ist ein Apotheker, eine Apothekerin wach.
Doch was ist mit dem seitens der Politik so hochgelobten und hochgepushten Versandhandel? Ist der niederländische oder isländische oder tschechische Versandhandel mit Arzneimitteln nachts wach? Ist er „präsent“? Welch ein Schwachsinn, dass Ulla Schmidt, als Sonderschullehrerin mit null Kompetenz für den Job als Gesundheitsministerin ausgestattet, den wachen Präsenz-Apotheken mit der Genehmigung des Versandhandels die Luft zum Atmen nahm. Heute traut sich keiner mehr, den Irrsinn wieder abzuschaffen. Genausowenig wie ihr „bürokratisches Monster“ Gesundheitsfonds.
Die „Präsenz“-Apotheke ist aber auch der Ort, an dem Kompetenz gefragt und vorhanden ist – sowohl pharmazeutische als auch psychosoziale. Pharmazeutische Kompetenz ist die Grundvoraussetzung. Ob der Apotheker als Inhaber oder sein Team – sie alle müssen ständig „präsent“ sein, sie müssen beraten und begründen und prüfen und Rezepturen fertigen. Und sie müssen ein Gefühl für den Patienten haben, dem sie Aug in Aug gegenüberstehen. Braucht er Erklärungen? Beratung? Benötigt er Zuwendung? Einen Menschen, der zuhört? Hat er Angst? Ist er medikamentenabhängig? Wie steht es dagegen um die psychosoziale Kompetenz des Versandhandels? Steht der Aug in Aug dem kranken Menschen gegenüber? Nein, der Versandhandel ist weit weg. Er schläft oder hält still oder hält sich raus. Und das mit Billigung der Politik.
So geht das nicht weiter. Die Apotheke als „Auslaufmodell“? Als Spielball von Pseudoreformern und Systemzerstörern und Apothekenkettenfanatikern? Als wenn nicht schon genug Unheil angerichtet worden wäre von denen, die glauben, man müsse nur „reformieren“, dann würde alles gut.
Das deutsche Apothekensystem ist noch solide, aber es wankt. „Reformen“, die ihren Namen nicht verdienen, versuchen seit Jahren, dieses in Jahrhunderten gewachsene „Hochsicherheitssystem“ durch Kaputtsparen zu zerstören. Es funktionierte zu gut. Wie unser Bildungssystem. Das ist auch von inkompetenten „Reformern“ heruntergewirtschaftet worden.
Was wir in diesen unruhigen Zeiten mehr denn je brauchen, sind Sicherheit und Kontinuität, Verlässlichkeit und Vertrauen. Die Apothekerin, der Apotheker als Inhaber der „Präsenz-Apotheke“ garantieren dafür.
Wir alle brauchen die Apotheke.
KRANKENKASSEN SCHWIMMEN IN GELD
Aber was tun sie damit?
Die gute Wirtschaftslage ist schuld. Die gesetzlichen Krankenkassen schwimmen im Geld. Milliarden Euro horten sie auf ihren Konten. Und nicht nur das. Auch der Gesundheitsfonds, der die Beiträge der Versicherten einsammelt, sitzt auf einem Milliardenberg. Zusammen sollen es aktuell mehr als 16 (!) Milliarden Euro sein. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Die Milliarden, die nicht gesetzlich als Reserve vorgehalten werden müssen, sollen weder in Form von Prämien an die Versicherten zurückgezahlt werden noch in Beitragssenkungen fließen.
Für die Zahlung von Prämien an die Mitglieder sind die Krankenkassen alleine zuständig. Denen hatte der Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt, sowohl bei Überschüssen Prämien zu gewähren als auch bei Verlusten Zusatzbeiträge zu erheben. Kassen, denen es schlecht ging, haben von den Zusatzbeiträgen reichlich Gebrauch gemacht. Doch jetzt, wo Überschüsse an die Mitglieder zurückfließen könnten, sträuben sich die meisten Kassen.
Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) geht das gegen den Strich. In einem Interview mit der „Rheinischen Post“ vom 11. Februar drückte er seinen Unmut darüber aus, dass nur einige kleinere Kassen das Instrument der Prämienzahlung an die Mitglieder nutzen. „Für die Kassen, die Prämien ausschütten, wäre dies ein Wettbewerbsvorteil, und Versicherte könnten so vergleichen, ob eine Kasse gut gewirtschaftet hat“, sagte er. Doch die Kassen mauern.
Bliebe noch die Möglichkeit der Beitragssenkung. Dafür ist wiederum der Bundesgesundheitsminister zuständig. Und der will seinerseits von Beitragssenkungen nichts wissen. Verständlich ist das schon. Denn ein Auf und Ab in der Beitragshöhe, je nach Konjunkturlage, führt zu schwankenden Einnahmen der Kassen. Das wiederum erhöht die Gefahr von Kassenpleiten, denn – so Bahr im Interview – nicht alle Kassen schwimmen im Geld. Während die meisten Kassen hohe Überschüsse erwirtschaften, kommen andere offensichtlich auch in diesen guten Zeiten nur so gerade über die Runden.
Warum geht es den meisten Kassen so gut? Und wird das so bleiben? Schwer zu sagen. Die letzte Beitragserhöhung durch den damaligen Gesundheitsminister Rösler war nicht gerade zimperlich. Dazu brummt die Konjunktur. Und der Arbeitsmarkt boomt. Deshalb sprudeln die Beiträge. Im Augenblick sieht es so aus, als könnte diese gute Wirtschaftslage noch ein, zwei Jahre anhalten. Jedenfalls sehen das Wirtschaftsexperten so.
Genügend Zeit und ausreichend Geld also, um über eine bessere Versorgung der Patienten nachzudenken. Doch auch da halten sich die Krankenkassen vornehm zurück. Sie wollen erst einmal gar nichts tun. Sie warten ab.
GRIFF NACH DEM STROHHALM
Ein Kommentar der Redaktion
Es wäre ein Skandal, wenn es so käme. Jahrzehntelang haben die gesetzlich Versicherten mit ihren Beiträgen versicherungsfremde Leistungen finanziert; zum Beispiel die kostenlose Familienversicherung oder die Kosten für Schwangere. Viele Milliarden Euro waren das Jahr für Jahr. Sie fehlten dem Gesundheitssystem. Diese Milliarden hätten aus Steuermitteln finanziert werden müssen. Auch diese Zeitung hat dies immer wieder angeprangert.
Seit kurzem dann endlich eine Lösung. Nicht alle versicherungsfremden Leistungen wollte der Staat übernehmen. Aber immerhin waren es im vergangenen Jahr 15 Milliarden. Doch jetzt, wo sich aus den Beiträgen der Versicherten Guthaben aufbauen, will Finanzminister Schäuble den Bundeszuschuss wieder kürzen. Der Grund: Deutschland braucht das Geld für höhere Kreditgarantien für den europäischen Rettungsschirm ESM.
Sollen jetzt wirklich die gesetzlich Krankenversicherten den europäischen Rettungsschirm mitfinanzieren? Noch gibt es Widerstand innerhalb der Regierungsparteien.
Doch ein Ertrinkender greift wohl nach jedem Strohhalm.